Nirvana in den buddhistischen Traditionen: Eine vergleichende Betrachtung
„Nirvana“ gehört zu den zentralen Konzepten buddhistischer Lehre und ist zugleich eines der vielschichtigsten. Je nach Tradition variiert seine Auslegung erheblich: von einer metaphysischen Transzendenz über psychologische Befreiung bis hin zu einer gelebten Gegenwärtigkeit jenseits aller Unterscheidungen. Die folgende Skizze zeigt, wie unterschiedlich Nirvana in den Hauptströmungen des Buddhismus verstanden wird.
Im frühbuddhistischen Denken, wie es uns im Pali-Kanon stellenweise begegnent (vgl. Samyutta Nikāya, Udāna), wird Nirvana oft als das Erlöschen der drei Geistesgifte Gier, Hass und Verblendung beschrieben. Es ist ein Zustand jenseits von Geburt und Tod, nicht als Ort gedacht, sondern als endgültige Befreiung vom leidhaften Kreislauf des Daseins, des Samsara.
Der Theravada-Buddhismus, der sich stark auf diese frühen Quellen bezieht, bewahrt diesen transzendenten Charakter, erweitert ihn aber um systematisierte Meditationspraxis und klare Stufenmodelle der Befreiung (vgl. Visuddhimagga). Nirvana ist hier nicht bloß das Erlöschen von Leid, sondern wird auch als Friede und ungeborenes Element, „asankhata dhatu“ beschrieben. In neueren Lesarten, etwa bei Buddhadasa, wird Nirvana jedoch auch als eine diesseitige Befreiung im gegenwärtigen Moment interpretiert, ein Ansatz, der sich mit moderner Psychologie und Achtsamkeitspraxis verbindet.
In den tantrischen und vajrayana-buddhistischen Schulen – vor allem im tibetischen Buddhismus – verschwimmt die Trennung von Nirvana und Samsara zunehmend. Hier wird Nirvana als die direkte Einsicht in die Leerheit des Geistes, „sunyata“, verstanden, verbunden mit der Erfahrung von Klarheit und Mitgefühl. Die Praxis zielt nicht auf das Verlassen der Welt, sondern auf ihre Transformation durch Rituale, Visualisierungen und das Auflösen dualistischer Vorstellungen (vgl. die Dzogchen-Lehren von Longchenpa oder Patrul Rinpoche): „Samsara ist Nirvana“, sofern die wahre Natur der Wirklichkeit erkannt wird.
Auch der Chan- und Zen-Buddhismus lehnt ein begriffliches oder zukünftiges Nirvana ab. Der Erwachte Geist ist immer schon da. Durch Praxis kann er im Alltag verwirklicht werden. Die Zen-Tradition (vgl. Dogen: Shobogenzo) betont das „Nirvana im Tun“: Wasser tragen, Holz hacken. Die Trennung zwischen Erleuchtung und Alltag wird als Illusion erkannt. Nirvana zeigt sich im Unmittelbaren, Jetzigen, jenseits von Sprache und Konzept.
Demgegenüber steht der Amitabha-Buddhismus, die Reines-Land-Schule, der Nirvana als Wiedergeburt im Reinen Land versteht, einem transzendenten Bereich, der ausschließlich durch das Vertrauen in die Kraft des Buddha Amitabha zugänglich wird. Dort ist die Erleuchtung leichter erreichbar, da leidvolle Bedingungen fehlen. In dieser Form des Buddhismus steht nicht die eigene Anstrengung, sondern die Hingabe im Zentrum, „Tariki“, die „fremde Kraft“. Nirvana erscheint hier als gnadenvolle Zwischenstation zur endgültigen Befreiung (vgl. das Amitabha-Sutra).
Während also der frühe Buddhismus Nirvana als Erlöschen betont, beschreiben spätere Strömungen es zunehmend als Verwirklichung des wahren Seins oder gar als Alltäglichkeit selbst.
Es gibt im Buddhismus also nicht die EINE Vorstellung von Nirvana, sondern je nach Tradition unterschiedliche. Welcher schließt Du Dich an?