Lieber Mingyur,
danke für Deine Ausführungen.
Ich möchte erst einmal auf einen Punkt eingehen, dem Ngöndro, den Vorbereitenden Übungen.
Ich bin bei den Drikung-Kagyüs, auch wir haben diese Übungen. Aber nicht jeder praktiziert sie. Sie sind also keine Pflicht, sondern werden als nützlich eingeschätzt. Wie das bei den Ordinierten ist, weiß ich nicht. Da kann ich mir vorstellen, dass sie alle diese durchlaufen. Ich als Laie muss das nicht. Von daher greift Dein Argument nicht, dass diese nur zum Zwecke der Bindung an die Schule dienen. Persönlich habe ich auch noch nie den Eindruck gehabt oder vermittelt bekommen, dass ich rekrutiert werden soll. Ich bewege mich völlig frei und ohne Zwänge in meiner Sangha, kann fragen so viel ich möchte und werde ganz individuell betreut, ich kann kommen und gehen wann ich will und so oft ich will. Ich bin diejenige, die bestimmt, was ich wann mache und zu wem ich gehe – es gibt keine schiefen Blicke. Ich kann natürlich nicht von Deiner Erfahrung sprechen, aber vielleicht möchtest Du selbst Dich dazu äußern.
Wie schon gesagt, "vorbereitend" bedeutet meiner Meinung nach nicht, dass das "Große" erst am Ende der Prozedur stattfinden muss. Aber sie helfen wohl dabei eine immer klarere Einsicht zu bekommen. Ich finde es auch logisch, dass man Anfänger nicht sofort mit Mahamudra konfrontiert, da es wohl fast niemanden gibt, der ad hoc zu einem Ergebnis kommen wird, außer dass er verwirrt da steht. Meiner Meinung nach ist es ein klassischer und tausendfach bewährter Weg, der aufgezeigt wird, aber der nicht immer exakt so ablaufen muss. Das mit den Stufen ist wohl eher ein Modell, die Realität sieht fließend aus. So sehr traditionell geht auch nicht mehr zu, jedenfalls nicht bei uns, obwohl unsere Linie traditionell ist. Der Wandel findet aber nicht von einem Moment zum anderen statt. Ich denke, man sollte sich auch Zeit lassen, bevor man Vorgehensweisen über Bord wirft, die sich seit Jahrhunderten bewährt haben und zu Erfolgen geführt haben.
Noch einmal zum Individuum.
Ich erfahre den Buddhadharma als etwas, das mich zur Selbstständigkeit auffordert. Also muss ich auf einen Lehrer zugehen und ihn bitten mich zu unterweisen, mir Anweisungen zu geben, meine Fragen zu beantworten. Ohne diese grundlegende Bereitschaft ist man dort am falschen Ort. In dem Moment, wenn ich mich dazu entscheide den Weg zu gehen, habe ich mich für die Freiheit und die Eigenverantwortung entschieden. Wenn ich erwarte, die Lehrer lesen meine Gedanken und Wünsche, dann habe ich ein Problem und es fehlt an Reife. Das ist kindliches Verhalten und führt nur zu Enttäuschungen. Ich muss bereit sein, mir zu holen, was ich brauche, und sei es, dass ich die Sangha wechsle. Nehme ich diese Haltung ein, dann werde ich nicht linientreu, werde nicht Gefolgschaft, sondern bin Praktizierender. Dass ich meinen Lehrern gegenüber, die mir so freigiebig und viel vermitteln, mir so viel Geduld entgegenbringen, dankbar bin, das ist etwas anderes und hat nichts mit Gefolgschaft zu tun. Dankbarkeit und Vertrauen haben nichts mit devotem Verhalten zu tun, im Gegenteil, sie entstehen nur in Freiheit.
Liebe Grüße
Knochensack