Ich habe bereits hier einige wesentliche Thesen aus Hintons o.g. Buch zitiert, das auszugsweise ua. Übersetzungen aus Koan-Sammlungen, des Herzsutras, taoistischer und Chan-Texte enthält. Die folgende kleine Übersicht verbinde ich mit Hinweisen darauf, welche Folgen seine Erkenntnisse für das übliche Zen-Verständnis im Westen (aber auch in Japan) haben könnten. Es sind bereits die üblichen Abwehrreaktionen von Dogen-Anhängern publik geworden, etwa bei Brad Warner, der mit Hinweis auf Dogens Shobogenzo aus dem 13. Jahrhundert meinte, dieser habe bereits alles Wesentliche zum Taoismus gesagt und er, Warner, müsse sich darum nicht mit Hinton beschäftigen. Im Folgenden wird klar, weshalb er so argumentieren muss, um nicht seinen Lebensinhalt in Frage zu stellen.
1) Hintons Ansatz, von Verständnis der Worte in ihrem chinesischen Kontext auszugehen, lässt ihn das Schriftzeichen für "Buddha" 佛
so lesen: Links eine Person, rechts ein Webstuhl, bei dem Fäden zusammenlaufen. Dieses "Gewebe der Ursprünge" wird von dem Taoisten Chuangzi so beschrieben: "zehntausend Dinge entstehen daraus und verschwinden wieder darin." Es handle sich um den Kosmos selbst, der als einziges erzeugendes Gewebe gesehen würde, weiblicher Natur sei und sich selbst neu gestalte.
2) Hinton sieht durch den Einfluss des Buddhismus den Taoismus belebt, vor allem durch Missverständnisse und Fehlübersetzungen von buddhistischen Konzepten.
3) Im rühen Chan wird der leere Geist kultiviert und die eigene ursprüngliche Natur als persönliche und unmittelbare Erfahrung erkannt, ohne dass dies mit Lehrern oder Lehren zu tun habe ("deine ursprüngliche Natur erkennend, wirst du Buddha", so Bodhidharma). Dafür steht chin. chien-hsing, jap. kensho, die Erleuchtung. Die Meditation richtet die Aufmerksamkeit auf Gedanken, die aus einer leeren Quelle kommen, die sich also voller dynamischer und schöpferischer Energie zeigt. Die Bedeutung des Teilzeichens "Webstuhl" kann aber auch "nicht" sein, so dass sich für Buddha ergibt: Person + nicht: Indem wir unsere personale Anhaftung aufgeben, werden wir zum Buddha.
4) Das Bewusstsein solle darum so kultiviert werden, dass es ein Gefühl der Ganzheit und Zugehörigkeit entwickelt und so ins "Gewebe der Realität" integriert.
5) In frühen taoistischen Lehren finden sich leerer Geist, Spiegel-Geist, Meditation, komische Weise, der ungebundene Wandergeist, Unlogik, die selbstlose Spontaneität des Kosmos, die Notwendigkeit, Sprache zu durchschauen usw., die als Literatur eine unmittelbare Erfahrung im Leser zu bewirken suchen - wie dann im Chan ("Wenn der Spiegel glänzt, lass keinen Staub darauf sich absetzen ..."/Chuangzi, später das Alternativgedicht des anderen Nachfolgers von Huinengs Meister).
6) Konfuzius fragt einen Schüler, was er mit "Stillem Sitzen und Vergessen" meine. Dessen Antwort: "Ich lasse den Körper wegfallen und den Intellekt schwinden, WEISE DIE FORM AB und verwerfe Verständnis." [Der Satz aus der chinesischen Tradition, der möglicherweise Dogen zum Verhängnis wurde, als er ihn ein bisschen falsch - oder unvollständig - verstand und sein shinjin-datsuraku, Abfallen von Körper-und-Geist, daraus machte - dies ist meine Interpretation, denn Dogen ließ zwar Körper-und-Geist, nicht jedoch die Form wegfallen.]
7) Anhand der Kommentatoren taoistischer und konfuzianistischer Schriften wie Wang Pi und Kuo Hsiang zeigt Hinton, dass chinesische Spiritualität als strikt empirisches (erfahrungsbasiertes) Rahmenwerk belebt werden sollte, zum Zwecke einer besseren Regierung und Gesellschaftsordnung. Wang beschreibt Selbstkultiviertheit als Stille und Bewegung: Meditativ wird das Gewebe von Bewusstsein und Kosmos vertiefend erkundet (Stille), in Form von "Abwesenheit-Handeln" (wu wei) das erzeugende Gewebe der Abwesenheit* mit seinen Möglichkeiten manifestiert (Bewegung).
* Dies ist sein Alternativbegriff für das, was als Leere verstanden wird.
8. Jeder Aspekt der Wirklichkeit ist tzu-jan, "Entstehen, das aus sich selbst auftaucht". Dies entspräche der ursprünglichen Erleuchtung im Chan, woraus sich ergäbe, dass keine Notwendigkeit der Praxis existiert.
9) Kuo identifiziert Nicht-Geist mit "dark enigma", dem "dunklen Rätsel", was des Taos erzeugenden Ort/Moment meint, von dem aus der erleuchtete Weise frei agiere.
10) Aus seinem Kommentar zu Chuangzi:
"Wenn du die Dinge vollkommen spiegelst, empfindest du nicht, dass sie Teil von dir würden. Es ist die Abwesenheit, die Teil von dir wird." (!)
"Wenn ich mit direkter Klarheit gemäß meiner ursprünglichen Natur handle, ist dies 'Enstehen, das aus sich selbst auftaucht'. Wenn ich in Verletzung meiner usprünglichen Natur handle, ist dies ebenfalls Entstehen, das aus sich selbst auftaucht. Ebenso, wenn ich diese Verletzung gerade zu biegen versuche."
11) Leere 空 (shunyata) wird im Buddhismus metaphysisch verstanden und unterstellt eine "letzte Wirklichkeit" hinter unserer physischen Welt. Dieses Konzept war den Chinesen fremd, für sie steht sie synonym mit Abwesenheit, dem einen formlosen erzeugenden Gewebe. Das Zeichen enthält die Bestandteile Höhle und Arbeit, also eine Leere, die zugleich erdgebunden wie auch erzeugend ist.
12) Weisheit (prajna) ist im indischen Buddhismus ein transzendentaler Zusatand vollkommener Weisheit, im Taoismus und Chan ein Geist, der zu seiner ursprünglichen Natur als "Abwesenheit" zurückgekehrt ist. Die chin. Zeichen bedueten "Übereinstimmung-Vergnügen", also das Vergnügen, mit dem Tao übereinzustimmen. Mit Bezug auf den Chan-Vorläufer Seng-chao sagt Hinton: "Er verwandelt die Meditation als Suche nach der Nirwana-Stille zu einem taoistischen Weg eines Weisen."
13) Aus dem Geist-Sutra (gemeinhin "Herzsutra" genannt): "Wenn du einen Geist besitzt, der das Ganze durchdringt, weilst du jenseits der silberzüngigen Sutren und vertraust dich stattdessen dem Momentanen und Unmittelbaren an."
14) Hsieh Ling-yün (385-433, eine Übersetzung seines Textes plane ich) beschreibt a) plötzliches Erwachen (außerhalb von Lehre und Sprache), b) dass alle Wesen Buddha-Natur haben und c) Nirwana Samsara sei! Er vollzieht als Dichter die Verbindung zur Landschaft, die sowohl in der Chan-Poesie wie der Malerei prägend bleiben wird.
15) Derselbe: "Einfaltspinsel folgen dumpf und blind, das ist minderwertig. Es führt zu der Vorschrift, gemäß der Bedürfnisse von Menschen zu lehren, und dem Glauben, dass Menschen, die dem folgen, gewiss die Quelle erkennen würden."
16) Derselbe: "Wenn Entstehen aus sich selbst Abwesenheit und Präsenz in vollkommenem Einklang bedeutet, wie kannst du dann von Abwesenheit allein sprechen? Wenn du aber von Abwesenheit abhängst, um Präsenz vollständig zu verstehen, wie könnte man das nicht als allmähliches Erwachen bezeichnen?" (Hierzu sehe man sich Muhos Verständnis von Absolutem/Abwesenheit und Relativem/Präsenz in aktuellen Videos an.)
17) Derselbe: "Nur Glaube entsteht aus Lehren, denn über Erleuchtung kann man nicht sprechen. Weil der Glaube aus den Lehren kommt, nährt er die Illusion, dass es mit einer täglichen Praxis ein Verdienst zu erwerben gäbe, dass Praxis näher an Erleuchtung heranbrächte."
18) Über den Poeten Tao Chien (365-427) sagt Hinton: "Seine Verse erscheinen farblos, wurden aber von Nachahmern bewundert, da sie sich nicht in dem Kampf um Verständnis verwickeln lassen, sondern stets mit der tiefsten Weisheit beginnen."
19) Die "Meißelinschrift vom Geist" (jap. Shinjinmei) übersetzt Hinton als "Tatsache-Geist-Inschrift", denn Geist sei nicht nur in sich undifferenziert, wie im Buddhismus üblich, sondern auch undiferenziert von der empirischen Welt der Fakten. So ergibt sich der Vers: "Tatsache und Geist nicht zwei Dinge."
20) Das Sanskrit-Wort rupam für Form wird im Chinesischen als 色 Farbe wiedergegeben und bedeutet auch "Shönheit/Erscheinung" wie bei einer schönen oder sogar verführerischen Frau! Das berühmte "Form ist Leere" wird so zu:
"Diese schöne Welt der Dinge unterscheidet sich nicht von Leere,
und Leere nicht von dieser Welt.
Diese Welt genau Leere,
Leere genau diese Welt."
21) Huineng: "Mache nicht den Fehler zu behaupten, Meditation und Weisheit seien verschieden. Sie sind in der Essenz eins, nicht zwei: Meditation ist die Wirksamkeit von Weisheit (prajna), und Weisheit ist die Verwirklichung von Meditation."
22) Linji nahm das "dunkle Mysterium" als seinen Namen an ("Purport Dark-Enigma", "Sinn Dunkles Geheimnis") und beschrieb sein Erwachen als das Erkennen des "inneren-Muster-Weges", "bodhi-Erwachen" jedoch - wie Nirwana - nur als "Anbindebalken für Esel" an.
23) Chao-chu beschrieb, er sei "plötzlich erwacht zu den wortlosen Tiefen des dunklen Geheimnisses." Im Mumonkan-Kommentar zu seinem "Mu"-Koan wird deutlich, wie Chao-chou die "Abwesenheit" beim Tadel seines Schülers verteidigt, der nur ein "Nein" gehört hatte. (vgl. damit diverse Auslegungen deutscher Zenlehrer)
24) Derselbe - als ein Mönch fragte, "was das eine Gebot ist, das die anfängliche Einheit vollkommen nennt?" - "Mach so ein Ding aus den Geboten wie diesem, und du wirst in Kürze schon ein alter Narr sein."
25) Derselbe: Ein Mönch fragte: "Was ist dein chi-gewebter Geist?" - "Abwesenheit: Kein Lehren, keine Übung."
26) Hinton zur Landschaftsmalerei: "Sie bringt uns zu unserer Ursprungsnatur zurück, dieser inneren Wildnis, wo wir tatsächlich die erwachte Landschaft sind, die sich selbst da draussen betrachtet."
27) Noch im (jap.) Hekiganroku tauchen o.g. tzu-jan, das innere Muster, das dunkle Geheimnis je ca. hundert Mal auf, das Ursprungsgewebe dreihundert Mal!
28) Daraus die zweiten Verse zum 20. Fall: "Reiche es (das Kissen) zum alten 'Strohgedeckte Hütte' weiter, und du bist frei: Keine Meditation mehr, die dir die Lampe verspricht, welche Patriarchen übertragen."
29) Im (jap.) Shoyoroku, den 100 Fällen, die Hongzhi zusammentrug, findet sich tzu-jan 21 x, das innere Muster 92 x, dunkles Geheimnis 101 x, das Urprungsgewebe 168 x. Die stille Erleuchtung ist also tatsächlich eine dynamische, die die schöpferische Energie der Abwesenheit enthält: "Bewege dich mit der sorglosen Leichtigkeit von Abwesenheit-Handeln (wu wei), du bist eingenäht in die zehntausend verwobenen Dinge." ("Die Übertragung der Lampe" sagt dazu: wu wei ist Meditation!)