Ich möchte hier eine (eigentlich offtopic) Bemerkung aus einem anderen thread aufgreifen und dazu einige Überlegungen äußern.
ZitatAllerdings beginnt auch ZEN langsam Staub anzusetzen, der seinen eigentlichen geistigen Inhalt zu verdecken droht (Ein Phänomen das bei allem auftritt was sich zu institutionalisieren beginnt. Organisatorische und symbolische Belange werden plötzlich wichtiger als die Sache selbst).
Das ist ein schönes Beispiel für das im Westen immer noch stark verbreitete Verwechseln von Zen als gelebter Praxis und Zen als bloßer literarischer Fiktion. Das Gegenteil ist vielmehr richtig - der Druck der Moderne, dem gerade in Japan die traditionellen religiösen Institutionen ausgesetzt sind und vor allem die Verbreitung von Zen als Praxis (und nicht nur von 'Zen-Literatur') im Westen haben dafür gesorgt, dass vieles an verkrusteten Strukturen abgebaut wird. Die oben beklagte "Institutionalisierung" von Zen ist beileibe keine moderne Entwicklung, sie begann vor über 1300 Jahren und hatte sich schon vor einem Jahrtausend zu sehr konkreten Formen verfestigt. Im 12. Jahrhundert fand diese Institutionaliserung im System der Fünf Berge und Zehn Klöster (als 'Gozan Jissetsu Seido' dann von Japan importiert) einen vorläufigen Abschluss .
Die Vielzahl von religiösen Zeremonien und zeitaufwendigen Rezitationen zu den unterschiedlichsten Anlässen, die im Tagesablauf eines japanischen Zenklosters (außer in Zeiten intensiver Übungspraxis) deutlich mehr Zeit einnehmen als die Zazen-Übung, ist zunächst einmal ziemlich überraschend und ernüchternd für den, der sich anhand einiger häufig mehr schlecht als recht übersetzter Texte ein völlig realitätsfernes und romantisches Bild von Zen zurechtgezimmert hat. Und das nicht, weil das japanische Zen in dieser Hinsicht 'entartet' wäre. Zwar ist die ursprüngliche "goldene Regel" Baizhangs aus dem 8. Jahrhundert nur noch in wenigen Zitaten erhalten, doch die erhaltenen, hauptsächlich aus dem 13. und 14. Jahrhundert stammenden Klosterregeln (der älteste, die sog. Chongning-Klosterregel, stammt von 1103) zeichnen ein in keiner Weise anderes Bild. Wer sich die unter den Ming zum Standard gewordene (revidierte) Baizhang-Klosterregel (kompiliert von Dongyang Dehui 1336) anschaut, wird vor allem überrascht sein, welchen Raum dort beispielsweise Riten und Zeremonien etwa zum Geburtstag des Kaisers und des Thronfolgers (und auch zu diversen Todes-Gedenktagen) einnehmen. Ein ganzes Kapitel (das 2.) ist Zeremonien gewidmet, die in Erfüllung von Verpflichtungen gegenüber dem Staat abzuhalten sind. Um eine kurze aber bezeichnende Passage aus der Einleitung dieses Kapitels zu zitieren:
"Jeder Kaiser regiert das Reich von Himmel und Erde als inkarnierter Nirmanakaya und wenn er seine Pflicht der Transformation vollendet, kehrt das Reich in den Zustand der Buddhaschaft zurück. Daher wird in den Tempeln der Hauptstadt, die von der Regierung unterstützt werden, das Bild des Kaisers auf dem Buddha-Altar aufgestellt. Fünf Mal im Monat werden dem Bild wie für eine lebende Person Opfergaben und Worte der Verehrung dargebracht und es wird mit nährenden und schützenden Gedanken verehrt ..."
Der "eigentliche geistige Inhalt" von Zen, von dem im Ausgangszitat die Rede ist, existiert zunächst einmal nur in persönlichen Vorstellungen auf Grundlage begrenzten Faktenwissens. Auch Zen ist leer - das heisst, es existiert nur aus einer Konstellation von Ursachen und Bedingungen heraus und ist diesen entsprechend beständigem Wandel unterworfen. Einen davon unabhängigen "geistigen Inhalt" gibt es nicht.
Zen ist ein buddhistischer Weg - ist mithin trotz aller doktrinären Eigentümlichkeiten Zufluchtnahme zu Buddha, Dharma und Sangha. Vor allem letzeres - die Zufluchtnahme zur Gemeinschaft als drittem Juwel und die gemeinschaftliche Praxis in und mit ihr - unterscheidet Zen als konkrete Praxis von bloßen theoretischen Vorstellungen über und von Zen sowie dessen "eigentlichen geistigen Inhalt". Im konkreten, im praktizierten Zen, ist keine Trennung zwischen Form und Inhalt. Der einzige Unterschied zwischen beidem ist der, dass man die Form erlernen kann - sie ist der Zugang. Dann - und erst dann - erschließt sich die Form auch als Inhalt und der Inhalt als Form. Dann - und erst dann - hat auch das Studium von traditionellen Zen-Texten einen Sinn. Ansonsten sind diese Texte nur leblose Zeichen auf Papier und Wegweiser in das Gestrüpp von Ansichten und Meinungen.
Zen ist also - wie jeder ernstzunehmende buddhistische Weg - nicht von seiner sozialen, historisch bestimmten Gestalt abzutrennen. Das literarisch-fiktive Zen unterscheidet sich vom konkreten, gelebten Zen wie der Film 'Fluch der Karibik' von der Realität des Schiffsverkehrs am Horn von Afrika im 21. Jahrhundert. Der Film mag interessanter und unterhaltsamer sein - hat aber nicht nur nichts mit der heutigen Realität zu tun, sondern auch nichts mit der der Karibik des 17. Jahrhunderts.
Mithin ist Zen auch nicht zu trennen von Institutionen und von den Regeln und Ritualen, die dem sozialen Zusammen-Wirken von Menschen in den Institutionen ihre Gestalt geben. Diese 'Gestalt' ist *nur* Upaya, 'geschicktes Mittel' - wobei das diminutive *nur* bei einem Werkzeug, dessen Funktion Realisierung der Buddhanatur ist, nicht wirklich angemessen ist. Um so mehr ist bei der Gestaltung dieses Upaya große Sorgfalt anzuwenden. Sicher sind viele Aspekte der traditionellen Gestalt verzichtbar, insbesondere im Westen. So ist z.B. eine Geburtstagszeremonie für den Kaiser (in Japan nach wie vor fester Bestandteil im Jahresablauf) oder auch die tägliche Zeremonie für den Kami Idaten als Wächter des Küchenfeuers nach meiner persönlichen Auffassung durchaus verzichtbar. Die Frage bleibt, was nicht verzichtbar ist bzw. einer anderen Gestaltung bedarf.
Dieser Frage muss sich nicht nur Zen, sondern jede buddhistische Tradition im Westen stellen; ihre Beantwortung ist Teil der Inkulturation und von der richtigen Antwort hängt deren Gelingen ab. Sie muss also mit Sorgfalt beantwortet werden - man kann einen Baum nicht verpflanzen, wenn man alle seine Wurzeln abschneidet und so die Gestalt des Baumes irreparabel schädigt. Wenn man nur die Blüten des Baumes als "eigentlichen geistigen Inhalt" im Auge hat und sich einen Blütenzweig in eine Vase stellt, wird man nicht lange Freude an ihnen haben.