Anapanasati - Vortrag des Ehrw. Ajahn Sumedho

  • Anapanasati - Ein Vortrag von Ajahn Sumedho

    Wir neigen dazu, alles Gewöhnliche zu übersehen. In der Regel sind wir uns des Atems nur dann bewußt, wenn etwas damit nicht zu stimmen scheint, z.B. wenn wir Asthma haben oder wenn wir schnell gelaufen sind. Bei ánápánasati jedoch nehmen wir den normalen Atem als Meditationsobjekt. Wir versuchen nicht, den Atem kurz oder lang zu machen oder sonstwie zu beeinflussen, sondern bleiben einfach bei der normalen Ein- und Ausatmung. Unser Atem ist nicht etwas, das wir erst erschaffen oder uns vorstellen müssen; atmen ist ein natürlicher Vorgang des Körpers, er hält an, solange wir leben - ganz gleich, ob wir uns darauf konzentrieren oder nicht. Er ist uns als Objekt der Erfahrung immer gegenwärtig, und wir können ihm uns jederzeit zuwenden. Um dies zu tun, brauchen wir keine besonderen Fähigkeiten und müssen dazu nicht einmal sonderlich intelligent sein - alles, was wir zu tun haben, ist uns mit einer Einatmung und einer Ausatmung zufriedenzugeben und ihr unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Weisheit kommt nicht vom Studium großer Theorien und Philosophien, sondern wächst aus der Beobachtung des Alltäglichen.


    Am Atem gibt es nichts Aufregendes oder Faszinierendes, und das kann uns sehr rastlos machen und Widerwillen in uns hervorrufen. Unser Verlangen hält uns laufend an, irgend etwas aufzugreifen, etwas Interessantes aufzunehmen, das uns ohne viel eigene Anstrengung fesselt. Wenn wir Musik hören, denken wir dabei nicht: "Ich muß mich auf diese faszinierende, aufregend rhythmische Musik konzentrieren" - wir können uns nicht halten, weil der Rhythmus uns mitreißt und hineinzieht. Der Rhythmus unseres normalen Atems hingegen ist weder interessant noch mitreißend, er wirkt beruhigend; aber die meisten Wesen sind Ruhe nicht gewohnt. Fast alle Menschen halten es für eine gute Idee, friedlich zu sein, finden aber dann die eigentliche Erfahrung enttäuschend oder frustrierend. Sie möchten Anregung und verlangen nach etwas, das sie fasziniert. Doch mit ánápánasati bleiben wir bei einem Gegenstand, der relativ neutral ist - wir hegen unserem Atem gegenüber keine allzu starken Gefühle von Zu- oder Abneigung.


    Wir nehmen einfach Notiz vom Anfang einer Einatmung, von ihrer Mitte und ihrem Ende; dann vom Anfang einer Ausatmung, von ihrer Mitte und ihrem Ende. Der sanfte Rhythmus des Atems, der langsamer ist als der Rhythmus gedanklicher Aktivität, führt uns zur Ruhe, er stillt unser Denken. Wir zielen während des Meditierens nicht darauf ab, irgend etwas zu kriegen, samádhi zu erreichen oder jhána zu verwirklichen: der Geist, der erreichen und bekommen will, anstatt sich zu bescheiden und mit einer Ein- und Ausatmung zufrieden zu sein, kommt nicht zur Ruhe, wird nicht still und fühlt sich frustriert.


    Anfänglich neigt die Aufmerksamkeit dazu, sich vom Atem wegzubewegen. Sobald wir dies merken, bringen wir sie sachte auf das Objekt zurück. Wir stellen uns darauf ein, sehr, sehr geduldig zu sein und immer wieder gewillt zu sein, neu zu beginnen. Unser Geist ist es nicht gewohnt, in Schranken gehalten zu werden. Er ist darauf trainiert, Dinge zu assoziieren und sich Meinungen über alles zu bilden. Wenn wir nicht mehr wie gewohnt unseren Intellekt und unsere Denkfähigkeit gebrauchen können, neigen wir zu Rastlosigkeit, verkrampfen uns leicht, und es kann sich Widerwillen und Widerstand gegen das üben von ánápánasati einstellen. Man kann dies mit dem Aufzäumen eines wilden Pferdes vergleichen, das sich anfänglich gegen alles wehrt, womit man es festhält.


    Wenn unsere Gedanken abschweifen, werden wir ärgerlich, verlieren den Mut und werden der ganzen Sache überdrüssig. Vielleicht versuchen wir dann aus Frustration, den Geist durch reine Willenskraft zur Ruhe zu zwingen; aber das hilft nur für kurze Zeit, dann sind wir wieder woanders. Die richtige Einstellung für ánápánasati ist große Geduld: sich beliebig viel Zeit zu nehmen und alle materiellen und persönlichen Probleme beiseite zu legen oder loszulassen. Während dieser Zeit gibt es nichts anderes zu tun, als unseren Atem zu beobachten.


    Falls die Aufmerksamkeit bei der Einatmung abschweift, achten Sie mehr auf die Einatmung; falls sie bei der Ausatmung abschweift, so achten Sie mehr auf die Ausatmung. Bleiben Sie dabei, die Aufmerksamkeit zurückzubringen - immer wieder bereit, neu damit zu beginnen. Am Anfang jedes neuen Tages, zu Beginn jeder Einatmung üben Sie sich im "Anfängergeist": nichts vom Alten zum Neuen hinübernehmend, nichts zurücklassend, gleich einem großen Feuer.


    Eine Einatmung; der Geist wandert, und wir bringen ihn wieder zurück; allein das ist bereits ein Augenblick der Achtsamkeit. Wir lehren den Geist, wie eine gute Mutter ihr Kind lehrt. Ein kleines Kind weiß nicht, was es tut, es läuft einfach herum - falls die Mutter nun ärgerlich wird, es anschreit und schlägt, macht sie das Kind nur verschreckt und neurotisch. Eine gute Mutter wird ihr Kind einfach lassen, aber sie wird es im Auge behalten, und wenn es wegläuft, wird sie es wieder zurückbringen. Wenn wir diese Art von Geduld entwickeln, brauchen wir nicht auf uns einzuprügeln und schließlich unseren Atem, uns selbst und alle Welt zu hassen und uns zu ärgern, weil wir durch ánápánasati nicht ruhig werden.


    Manchmal nehmen wir alles zu ernst, sind zu freudlos, verlieren unseren Sinn für Humor und unterdrücken und verdrängen einfach alles. Stimmen Sie sich fröhlich, wagen Sie ein Lächeln! Entspannen Sie sich, seien Sie gelöst - es gibt nichts zu gewinnen; was wir vorhaben, ist nichts Besonderes, keine große Sache.


    Was also können Sie sagen, heute für Kost und Lebensunterhalt geleistet zu haben? Eine achtsame Einatmung? Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein! Und doch ist das mehr, als die meisten Menschen von sich sagen können.


    Wir führen keine Schlachten gegen die Mächte des Bösen. Wenn Sie Abneigung gegen ánápánasati verspüren, dann nehmen Sie auch das zur Kenntnis. Fassen Sie diese Praxis nicht als ein Muß oder eine Pflichtübung auf; lassen Sie es sich ein Vergnügen sein, etwas, das Sie wirklich gerne machen. Falls Sie sich beim Gedanken ertappen "das kann ich nicht", sehen Sie diesen Gedanken als Widerstand, als Angst oder Frustration, und dann entspannen Sie sich. Machen Sie sich diese übung nicht zur Belastung oder zu einer schwierigen Aufgabe. In meinen frühen Jahren als Mönch nahm ich mich todernst; ich war grimmig, bitter entschlossen und stocksteif - und geriet in die fürchterlichsten Zustände mit Gedanken wie "ich muß ..., ich muß ...". In jener Zeit lernte ich, Betrachtungen über Frieden anzustellen. Ob bei Zweifel oder Rastlosigkeit, Unzufriedenheit oder Abneigung - bald war ich fähig, über Frieden zu reflektieren, das Wort immer wieder vor mich herzusagen und mich so zu beruhigen. Wenn die Selbstzweifel anfingen ("das führt zu nichts, es ist sinnlos, ich möchte endlich etwas erreichen"), dann war ich in der Lage, auch damit in Frieden zu leben. Wenn wir also verkrampft sind, sollen wir uns entspannen und dann zu ánápánasati zurückkehren.


    Am Anfang geht es uns wie bei den ersten Versuchen, Gitarre zu spielen: Unsere Finger sind steif und unbeweglich, und es scheint hoffnungslos. Aber nach einiger Zeit werden wir geschickter, und das Spielen geht leichter. Wir lernen langsam, darauf zu achten, was sich im Geist abspielt, damit wir uns bewußt sind, wenn wir unruhig, verkrampft oder träge werden. Wir erkennen das - ohne uns vorzumachen, es wäre anders; wir sind uns voll bewußt, wie die Dinge sind. Wir bleiben bei unserem Bemühen für die Dauer einer Einatmung, und wenn wir das nicht schaffen, dann bleiben wir eben für eine halbe Einatmung dabei. Wir hüten uns davor, mit einem Schlag perfekt sein zu wollen. Wir brauchen nicht alles genau richtig zu machen und irgendeiner Vorstellung nachzuhängen, wie die Dinge sein sollten; wir arbeiten an jenen Problemen, die unmittelbar anstehen. Wenn der Geist verwirrt oder zerfahren ist, dann ist es Weisheit, die erkennt, wie sich der Geist in alle Richtungen verliert; diese Konfusion als solche zu erkennen - das ist Einsicht. Und zu denken, daß dies alles nicht so sein sollte, uns selbst dafür zu hassen oder uns davon entmutigen zu lassen, wie wir eben jetzt gerade so sind - das ist Unwissenheit.


    Wir beginnen nicht auf dem Niveau eines perfekten Yogis oder versuchen, Iyengar nachzuahmen, bevor wir uns nicht vorbeugen und unsere Zehen erreichen können. (Anmerkung: B. K. S. Iyengar ist ein bekannter zeitgenössischer Hatha-Yogi). Wenn wir das Buch Light on Yoga durchblättern und sehen, wie Iyengar seine Beine hinter dem Nacken verschränkt, alle möglichen und erstaunlichen Stellungen einnimmt, und hinterher versuchen, ihn unverzüglich nachzuahmen, so wird man uns wahrscheinlich ins Krankenhaus abtransportieren müssen. Wir fangen damit an, uns ein bißchen mehr vornüberzubeugen, erforschen den Schmerz und unseren Widerstand dagegen und lernen allmählich, uns mehr zu dehnen. Das gleiche gilt für ánápánasati. Wir nehmen zur Kenntnis, wo wir stehen, was jetzt ist - das ist unser Ausgangspunkt. Dann halten wir die Aufmerksamkeit ein wenig länger aufrecht und fangen an zu verstehen, was Konzentration ist. Legen Sie keine übermenschlichen Versprechungen ab, wenn Sie kein übermensch sind! Sie sagen: "Ich werde die ganze Nacht sitzen und meinen Atem beobachten", nur um sich hinterher zu ärgern, weil Sie vorzeitig aufgeben mußten. Setzen Sie eine Zeitdauer fest, von der Sie wissen, daß Sie sie einhalten können. Experimentieren Sie für sich; arbeiten Sie mit dem Geist, bis Sie lernen, wie man sich anstrengt und wie man sich entspannt.


    Wir lernen unsere ersten Schritte im Stolpern und Fallen. Beobachten Sie kleine Kinder. Ich habe noch keines gesehen, das sofort gehen konnte. Kleine Kinder lernen das Gehen, indem sie erst einmal kriechen, sich an Dingen festhalten, niederfallen und sich wieder aufrichten. Dasselbe gilt für Meditation. Wir werden klüger, indem wir unsere Unwissenheit beobachten: Wir machen Fehler, schauen uns diese an - und machen weiter. Wenn wir zuviel darüber nachdenken, scheint alles hoffnungslos. Wenn sich kleine Kinder viele Gedanken machten, würden sie gar nicht erst zu gehen anfangen. Nach ihren ersten Versuchen zu schließen, scheint die Sache aussichtslos. Ein kleines Kind, das eben im Begriff ist, gehen zu lernen, scheint sich umsonst abzumühen. Wenn wir über Meditation nachdenken, kann uns das ebenfalls als vollends hoffnungsloses Unterfangen vorkommen. Aber wir geben nicht auf und machen einfach weiter. Das ist leicht, wenn wir voller Enthusiasmus sind, inspiriert durch einen Lehrer und durch die Lehre selbst. Aber Enthusiasmus und Inspiration sind vergängliche Zustände und sie führen uns irgendwann in die Enttäuschung und die Langeweile. Wenn wir uns langweilen, müssen wir Energie in unsere Praxis bringen. Bei Langeweile wollen wir aufgeben und in einen aufregenden oder faszinierenden Zustand wiedergeboren werden. Aber um wirklich Einsicht und Weisheit zu entwickeln, müssen wir auch in den Tiefen von Enttäuschung und Depression geduldig durchhalten. Nur auf diese Weise kann es uns gelingen, die wiederkehrenden Verhaltensmuster nicht länger zu verstärken; schließlich werden wir zu einem Verständnis ihrer Aufhebung kommen und so die Stille und Leerheit des Geistes kennenlernen.


    Es kann sein, daß wir Bücher lesen, denen zufolge wir uns um nichts anzustrengen haben, sondern einfach alles auf natürliche und spontane Weise geschehen lassen sollen. Dann finden wir uns geneigt zu glauben, daß wir nichts weiter zu tun haben, als uns hinzuflegeln, und verfallen daraufhin in einen trägen und passiven Zustand. Wann immer ich in meiner eigenen Praxis mit Trägheit zu arbeiten hatte, habe ich einsehen gelernt, wie wichtig es ist, Energie in meine Körperhaltung zu bringen. Ich habe herausgefunden, daß es sinnlos ist, sich bloß auf passive Weise anstrengen zu wollen. Ich habe mich dann gerade aufgerichtet, die Brust herausgedrückt und Energie in die Sitzhaltung gelegt. Oder ich machte einen Kopf- oder Schulterstand. Obwohl ich in der Anfangszeit meiner Praxis über alles andere als gewaltige Mengen an Energie verfügte, habe ich damit zumindest etwas fertiggebracht, das ein klein wenig Anstrengung verlangte. Ich habe gelernt, diese Energie für ein paar Sekunden aufzubringen, habe sie schließlich wieder verloren - aber das war besser, als nichts zu tun.


    Je leichter wir es uns machen, je mehr wir den Weg des geringsten Widerstandes gehen und unseren Wünschen und unserem Verlangen folgen, um so achtloser, nachlässiger und verworrener wird der Geist. Denken ist leicht; es ist leichter, während des Sitzens die ganze Zeit zu denken als nicht zu denken. Denken ist eine Gewohnheit, die wir angenommen haben. Selbst der Gedanke "ich soll nicht denken" ist bloß ein weiterer Gedanke. Um Gedanken zu vermeiden, müssen wir auf sie achten, müssen Zuhören und Beobachten lernen und unsere Aufmerksamkeit auf den inneren Fluß aller Regungen des Geistes lenken. Anstatt über den Geist nachzudenken, beobachten wir ihn. Anstatt uns in Gedanken zu verlieren, fahren wir fort, diese als solche zu erkennen. Denken ist Bewegung, ist Energie; Gedanken kommen und gehen, sie sind kein Dauerzustand des Geistes. Wenn wir, ohne zu analysieren oder zu bewerten, Gedanken einfach als Gedanken erkennen, läßt unsere gedankliche Aktivität nach und hört schließlich auf. Das bedeutet keineswegs Vernichtung, sondern lediglich die Erlaubnis, Dinge enden zu lassen. Es ist Mitgefühl. Sobald unser gewohnheitsmäßiges und zwanghaftes Denken abzuklingen beginnt, tun sich uns große Weiten auf, von denen wir nichts geahnt haben.


    Durch das Vertiefen der Aufmerksamkeit in den natürlichen Atemvorgang verlangsamen wir alles und beruhigen damit die kammischen Gebilde; das ist, was mit samatha, dem Zurruhekommen des Geistes, gemeint ist: an einen Punkt innerer Stille gelangen. Der Geist wird geschmeidig, formbar und elastisch, während der Atem dabei sehr fein, kaum mehr spürbar werden kann. Wir führen die Samatha-Praxis jedoch nur bis an einen Punkt, der sich upacára-samádhi (Schwellensammlung) nennt und versuchen nicht weiter, uns völlig in das Meditationsobjekt zu versenken und jhána zu erreichen. Hier sind wir uns immer noch des Objekts und seiner Umgebung bewußt. Die extremeren Formen geistiger Unruhe haben sich beträchtlich verringert, wir sind voll funktionsfähig, und Weisheit kann ungehindert arbeiten. Mit der nun gesteigerten Fähigkeit, Weisheit anzuwenden, forschen wir jetzt weiter. Wir nennen das vipassaná - Einsicht. Es ist die klare Betrachtung der Natur aller Dinge, die unsere Erfahrung ausmachen: ihre Vergänglichkeit, ihre Unfähigkeit, uns Befriedigung zu verschaffen, und ihre Unpersönlichkeit. Aniccam, dukkham, anattá sind keine Vorstellungen, die wir einfach glauben, sondern Merkmale, die wir beobachten können. Wir erforschen den Anfang einer Einatmung und ihr Ende. Wir beobachten, was ein Anfang ist - wir denken nicht darüber nach, sondern untersuchen in reiner Achtsamkeit eine Einatmung von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende. Der Körper atmet ganz von selbst, das Einatmen bedingt das Ausatmen, und die Ausatmung bedingt die Einatmung. Wir haben keinen Einfluß auf diesen Umstand. Unsere Atmung ist Teil der Natur, sie gehört nicht uns; sie ist Nicht-Selbst. Wenn wir das in diesem Licht erkennen, praktizieren wir vipassaná.


    Die Weisheit, die von buddhistischer Meditation kommt, macht bescheiden - Ajahn Chah nennt sie "Regenwurmwissen", denn sie macht weder arrogant noch eingebildet und gibt einem auch nicht das Gefühl, irgend etwas Bestimmtes zu sein oder erreicht zu haben. Aus weltlicher Sicht scheint diese Praxis weder besonders wichtig noch notwendig; niemand wird sich je Schlagzeilen einfallen lassen wie: "Heute um 8 Uhr abends hatte der Ehrwürdige Sumedho eine Einatmung!" Manchen Menschen scheint es unheimlich wichtig, sich den Kopf über Probleme der Welt zu zerbrechen: wie den Völkern der Dritten Welt zu helfen sei oder wie die Welt ins Gleichgewicht gebracht werden kann. Im Vergleich dazu scheint es unbedeutend, seinen Atem zu beobachten, und die meisten mögen sich fragen: "Wozu damit die Zeit verschwenden?" Ich bin daraufhin angesprochen worden, und man ist mir auch mit Fragen gegenübergetreten wie: "Was sitzt ihr Mönche da herum? Was tut ihr, um der Menschheit zu helfen? Ihr seid nichts weiter als egoistisch, erwartet von andern, daß sie euch Essen geben, während ihr einfach hier rumsitzt und euren Atem betrachtet. Ihr lauft vor der wirklichen Welt davon." Aber was ist die wirkliche Welt? Wer läuft hier eigentlich weg, und wovor? Was ist es, dem man sich stellen muß? Wenn wir der Sache auf den Grund gehen, stellt sich heraus, daß Menschen jene Welt die "wirkliche" nennen, an die sie glauben, zu der sie sich verpflichtet haben, die sie kennen und die ihnen vertraut ist. Aber diese Welt ist eine Vorstellung, ein Zustand unseres Geistes. Meditation bedeutet die Begegnung mit der wirklichen Welt, diese zu erkennen und sie anzunehmen, wie sie wirklich ist - anstatt weiterhin an eine Vorstellung zu glauben, diese zu rechtfertigen oder sie nicht wahrhaben zu wollen.


    Die wirkliche Welt beruht auf dem gleichen Prinzip von Entstehen und Vergehen wie der Atem. Wir theoretisieren nicht über das Wesen der Dinge und versuchen auch nicht, mit philosophischen Ideen anderer Leute zu vernünfteln, sondern beobachten unmittelbar die Natur der Dinge durch Betrachtung unseres Atems. Wenn wir unseren Atem beobachten, dann beobachten wir damit die Natur selbst; die Natur des Atems lehrt uns die Natur aller bedingten Erscheinungen. Wenn wir versuchen wollten, alle bedingten Phänomene in ihrer endlosen Vielfalt, mit all ihren Eigenschaften und ihrer verschiedenen Lebensdauer zu verstehen, würden wir nirgendwo hinkommen; es überstiege unsere Geisteskräfte. Wir müssen vom Einfachen lernen.


    Mit einem ruhigen Geist werden wir des wiederkehrenden Musters gewahr; wir sehen, daß alles, was entsteht, sich wieder auflöst. Dieser Kreislauf nennt sich Samsára, das Rad von Geburt und Tod. Wir werden uns des samsárischen Zyklus des Atems bewußt. Wir atmen ein und dann aus - wir können nicht entweder nur einatmen oder nur ausatmen. Es wäre absurd zu denken: "Ich möchte nur einatmen, aber nicht ausatmen - ich gebe das Ausatmen auf, mein Leben soll aus einer einzigen Einatmung bestehen." Das wäre völlig lächerlich. Würde ich Ihnen das vorschlagen, hielten Sie mich für verrückt. Und doch handeln die meisten Menschen gerade so.


    Wie töricht wir Menschen sind, wenn wir uns an Aufregung, Vergnügen, Jugend, Schönheit und Gesundheit klammern. "Ich möchte nur schöne Dinge und will nichts mit Häßlichem zu tun haben. Ich will Spaß, Freude und Kreativität, nur keine Langeweile oder Depression." Das ist genau die gleiche Art von Verrücktheit, wie wenn Sie mich sagen hörten: "Ich kann Einatmungen nicht leiden, ich werde von nun an keine mehr machen." Wenn wir feststellen, daß das Festhalten an Schönheit, Sinnesfreuden und Liebe letzten Endes nur zu Verzweiflung führt, ändert sich unsere Einstellung in eine innere Losgelöstheit. Das bedeutet nicht Verdrängung oder ein Vernichtenwollen, sondern einfach ein Loslassen, ein Nicht-Anhaften. Wir suchen nicht weiter nach Vollkommenheit in irgendeinem Teil des Kreislaufs, sondern sehen, daß die Vollkommenbheit im Ganzen liegt - Alter, Krankheit und Tod sind darin mit eingeschlossen. Was aus dem Nicht-Bedingten entsteht, erreicht einen Höhepunkt und kehrt ins Nicht-Bedingte zurück - darin liegt Vollkommenheit.


    Wenn wir erkennen, wie alle sankháras nach diesem Muster des Entstehens und Vergehens verlaufen, beginnen wir uns nach innen zu wenden, zum Nicht-Bedingten, zum Frieden des Geistes und seiner Stille. Wir fangen an, suññatá oder Leerheit zu erfahren - was nicht eine Art Bewußtlosigkeit oder Nichts ist, sondern klare, vibrierende Stille. Tatsächlich können wir uns statt dem Atem oder den Zuständen des Geistes dieser Leerheit zuwenden. Damit gewinnen wir eine Perspektive auf die bedingten Erscheinungen und reagieren nicht mehr blindlings auf sie.


    Es gibt das Bedingte, das Nicht-Bedingte und unser Erkennen. Was ist das Erkennen? Ist es Erinnerung? Ist es Bewußtsein? Ist dies "ich"? Es ist mir nie gelungen, das wirklich herauszufinden; aber ich kann dessen gewahr sein. In buddhistischer Meditation bleiben wir mit diesem Wissen, werden uns laufend gewahr, bleiben wach, sind Buddha in der Gegenwart und erkennen, daß alles, was entsteht, auch wieder vergeht und Nicht-Selbst ist.


    Wir wenden dieses Wissen auf alles an, sowohl auf das Bedingte als auch auf das Nicht-Bedingte. Es ist transzendent - wir sind dabei vollkommen wach, anstatt uns in irgend etwas zu flüchten - und es spielt sich dabei in aller Gewöhnlichkeit ab. Wir nehmen die vier normalen Körperhaltungen ein: Stehen, Gehen, Sitzen und Liegen - wir brauchen uns nicht auf den Kopf zu stellen oder uns rückwärts zu überschlagen. Wir verwenden vier normale Haltungen und den gewöhnlichen Atem, denn wir bewegen uns in Richtung des Allergewöhnlichsten, des Nicht-Bedingten. Bedingte Erscheinungen und Zustände sind außergewöhnlich, aber der Frieden, der unserem Geist zugrunde liegt, das Nicht-Bedingte, ist so gewöhnlich, daß wir überhaupt nicht darauf aufmerksam werden. Es ist dauernd da, aber wir nehmen es nicht wahr, weil uns alles Geheimnisvolle und Faszinierende mehr anzieht.


    Wir verlieren uns in Dingen, die entstehen und wieder vergehen, in Dingen, die uns anregen oder deprimieren und darin, wie uns die Dinge in diesem Augenblick erscheinen. Meditation hilft uns, an den Ursprung zurückzukehren, zurück zu jenem Frieden und in die Haltung des Erkennens. Dann verstehen wir die Welt als das, was sie ist, und lassen uns nicht mehr davon täuschen. Das Verstehen von Samsára ist der Zustand von Nibbána. Wenn wir die wiederkehrenden Muster unserer Gewohnheiten erkennen und uns nicht mehr davon irreführen lassen, verwirklichen wir Nibbána. Buddha-Wissen umfaßt nur zwei Dinge: das Bedingte und das Nicht-Bedingte. Es ist die unmittelbare Erkenntnis vom Wesen aller Dinge, wie sie jetzt sind, ohne danach zu greifen oder daran zu haften.


    Wir können uns in diesem Augenblick bewußt werden: der Geisteszustände, der Körperempfindungen, all dessen, was wir sehen, hören, schmecken, riechen, fühlen und denken und auch der Leerheit des Geistes. Das Bedingte und das Nicht-Bedingte sind das, was wir erkennen können.


    Die Lehre des Buddha ist eine sehr direkte Lehre. Unsere Praxis besteht nicht darin, in der Zukunft einmal erleuchtet zu werden, sondern jetzt, in der Gegenwart des Erkennens zu leben.


    Aus: Erkenntnis geschieht jetzt von Ajahn Sumedho

    ... so habe ich es verstanden.


    Without knowing exactly what is meant by nibbana do not think that you understand the Buddha's teaching. (Nanavira Thera)