Burmesische Satipatthana-Methoden

  • Die folgende Anleitung wurde entnommen aus dem Buch "Die Meditation, die der Buddha selber lehrte" von Amadeo Sole-Leris.
    (Herder Verlag,1994 ISBN 3451043165, 9783451043161)


    Eine weitere gute Anleitung dieser Übung gibt es von Nyanaponika in seinem Buch "Satipatthana, Geistestraining durch Achtsamkeit".
    Online hier verfügbar: http://www.palikanon.com/diver…patthana/satipatt_06.html


    Vipassana-Meditationskurs nach Mahasi Sayadaw


    Die Methode


    Einführung
    Mahasi Sayadaws Meditationsmethode baut auf den vier Grundlagen der Achtsamkeit (satipatthana) auf, wie er sie von Mingun Sayadaw gelernt hatte, und nimmt sich als Hauptgegenstand die Betrachtung des Körpers vor. Traditionellerweise war der meistgebrauchte Gegenstand für die Betrachtung des Körpers immer der als erster in der Lehrrede genannte gewesen, nämlich die Atmungs-Achtsamkeit (wie wir in Kapitel 6 gesehen haben). Mahasi Sayadaw wandelte diese Übung jedoch leicht ab. Er hatte beobachtet, daß es Leute gab, die damit Schwierigkeiten hatten, die relativ schwachen Sinnesempfindungen wahrzunehmen, die der Atem in den Nasenlöchern und auf der Oberlippe hervorruft. So beschloß er, auf eine andere der traditionellen Körper-Betrachtungsübungen zurückzugreifen, nämlich auf die dritte der in der Lehrrede genannten, die Übung der „Wissensklarheit bei jeglicher Verrichtung". Grundsätzlich besteht die Methode von Mahasi Sayadaw also darin, bei der Übung ständig und Augenblick für Augenblick voll bewußt alles, was man tut oder erfährt, wahrzunehmen. Doch ist es vor allem für einen Anfänger ziemlich schwierig, die für das erfolgreiche Üben erforderliche Anfangskonzentration zu erlangen, wenn man auf der Stelle damit anfangen soll, auf ausnahmslos jede Verrichtung genau zu achten. Daher war es notwendig, sich für den Anfang als Hauptgegenstand auf einen besonderen Aspekt der körperlichen Aktivität zu konzentrieren. Mahasi Sayadaw beschloß, dafür die Aufmerksamkeit auf die Körperbewegung auszuwählen, die ganz eng mit dem Akt des Atmens zusammenhängt (so daß er hier wieder an die traditionelle Übung der Achtsamkeit auf das Atmen anknüpfte) und die wie das Atmen selbst sowohl automatisch als auch der willensmäßigen Beeinflussung unterworfen ist. Es handelt sich um die Bewegung des Bauches beim Prozeß des Atmens. Selbst wenn wir normalerweise nicht darauf achten, dehnt sich ja unser Bauch bei jedem Zug des Einatmens aus und zieht sich beim Ausatmen zusammen; Mahasi Sayadaw nannte dies das „Sich-Erheben und Sinken des Bauches". Zwar ist dieses Sich-Erheben und Sinken Teil des notwendigerweise am Akt des Atmens beteiligten Muskelprozesses, aber dennoch wird es nicht als identisch mit der „Atmungs-Achtsamkeit" betrachtet, sondern eher als das direkte Sich-Konzentrieren auf einen körperlichen Prozeß als Spezialform der Übung der „Wissensklarheit bei jeglicher Verrichtung".


    Sehen wir uns jetzt den Verlauf eines Klarblicks-Meditationskurses genauer an, wie er in Thathana Yeiktha und anderen Zentren der birmanischen Methode von Mahasi Sayadaw gestaltet wird. Die Kurse dauern gewöhnlich ein bis zwei Monate und sind ziemlich intensiv. Bis zu sechzehn Stunden täglich sind der Meditation gewidmet, wobei sich Phasen der Sitzmeditation mit Phasen der Gehmeditation abwechseln, und auch während man sich außerhalb der Zeiten formaler Meditation der Verrichtung der täglichen Lebensnotwendigkeiten widmet, versucht man ein Höchstmaß an bewußter Achtsamkeit auf jede einzelne Verrichtung aufrechtzuerhalten. Der Grundkurs umfaßt ein Vorbereitungsstadium und vier Grundübungen, womit ein gewisses Maß an Gehmeditation verbunden ist.


    Das Vorbereitungsstadium
    Die acht Sittenregeln
    Zunächst einmal wird der Schüler aufgefordert, sich für die Dauer des Kurses an die Disziplin der acht Sittenregeln zu halten, die alle Laien in buddhistischen Ländern an religiösen Festen und während meditativer Einkehrzeiten beobachten. Diese acht Sittenregeln verlangen, daß man sich enthalte: 1. vom Töten irgendeines Lebewesens (sogar z. B. einer Schnake, die einen plagt), 2. vom Stehlen, 3. von jeglicher Art sexueller Tätigkeit, 4. vom Lügen, 5. von berauschenden Getränken oder sonstigen Rauschmitteln, 6. vom Zusichnehmen von fester Nahrung nach zwölf Uhr mittags (allerdings sind bestimmte Flüssigkeiten, wie Fruchtsäfte oder Tee, nachmittags erlaubt), 7. vom Tanzen, Besuch von oder Teilnahme an Darbietungen oder Unterhaltungen, vom Gebrauch von Parfümen, Kosmetika und Körperschmuck usw., 8. vom Gebrauch von hohen oder luxuriösen Betten (das ist die traditionelle Formulierung; gemeint ist der Gebrauch von übertrieben bequemen oder luxuriösen Möbeln).


    Die vier Arten des Schutzes
    Zweitens wird vorgeschlagen, man solle sich für die Dauer des Kurses geistig unter den Schutz des Buddha und die Führung des Meditationslehrers stellen. Dafür gibt es einen ganz praktischen Grund, denn je nach der geistigen Verfassung des Schülers kann es sein, daß sich Erfahrungen oder Visionen einstellen, die ihm Furcht, Angst, Verwirrung usw. einjagen, und in solchen Fällen ist es ein ausgezeichneter psychologischer Schutz, sein Vertrauen nicht nur in den qualifizierten Lehrmeister gesetzt zu haben, mit dem zusammen man übt, sondern auch in den Großen Meister selbst, den Buddha, der persönlich die Technik in allen ihren wesentlichen Zügen entwickelt und vervollkommnet hat, die man nun selbst lernt.
    Aus diesem Grund wird der Schüler angewiesen, sich einer kurzen Betrachtung der traditionellen „vier Arten des Schutzes" zu widmen. Sie gründet sich auf vier der in Kapitel 4 beschriebenen Betrachtungen: des Buddha, der Güte, der Widerlichkeit des Körpers und des Todes. Hier werden die Betrachtungen normalerweise nur mit einem milden Grad geistiger Sammlung (vorbereitende Sammlung) durchgeführt. Man denkt über jeden der Gegenstände anhand der bereits erwähnten Formeln nach (im Fall der Güte kultiviert man das Wohlwollen gegenüber allen Lebewesen anhand der auf einem einfachen diskursiven Niveau). Man spricht von diesen vorbereitenden Betrachtungen als von „Arten des Schutzes", weil sie dem Zweck dienen, dem Übenden psychologische Sicherheit zu gewährleisten, indem er sich in eine zuversichtliche, innerlich losgelöste und positive geistige Grundhaltung einübt.


    Grundübung I
    Man nimmt eine sitzende Haltung ein, verschränkt die Beine, hält den Rücken gerade und läßt die Hände im Schoß ruhen. (Wer sich schwertut, auf die übliche Weise mit verschränkten Beinen zu sitzen, kann auch irgendeine andere Sitzstellung einnehmen.) Die Augen können leicht geöffnet sein, aber nicht auf irgend etwas Bestimmtes gerichtet, so daß der Blick ganz ungezwungen ist, entsprechend der Kopfhaltung. (Im Unterschied zu anderen Methode den arbeitet man hier nicht mit visuellem Betrachten; die Augen könnten auch ganz geschlossen sein, aber wenn man sie halb geöffnet hält, hilft das gegen das Schläfrigwerden, was besonders bei Anfängern hilfreich ist.)


    Dann kommt folgende Unterweisung:
    „Versuche, deinen Geist (nicht jedoch deine Augen) auf deinen Unterleib gerichtet zu halten. Du wirst dadurch der Bewegungen des Sich-Erhebens und Sinkens dieses Körperteils gewahr. Werden dir diese Bewegungen am Anfang nicht ganz deutlich, so lege beide Hände auf den Bauch, um das Sich-Erheben und Sinken zu fühlen. Nach kurzer Zeit wirst du deutlich die Aufwärtsbewegung des Einatmens (Ausdehnung) und die Abwärtsbewegung des Ausatmens (Zusammenziehen) wahrnehmen. Halte dann im Geist fest: „Heben" bei der Aufwärtsbewegung, und „Senken" bei der Abwärtsbewegung. Du mußt jede der beiden Bewegungen deutlich als solche registrieren, während sie stattfindet."


    Das ist auf dieser Stufe alles. Aber es ist schon ziemlich viel: Seine Aufmerksamkeit ständig auf den zu beobachtenden Vorgang zu halten ist alles andere als leicht, wenn man darin noch keine Übung hat. Doch ist es wichtig, darin beharrlich zu bleiben und sich immer vor Augen zu halten, daß der Zweck darin besteht, ausschließlich auf die Sinneswahrnehmung zu achten und so weit wie möglich alle mentalen und affektiven Assoziationen (Ideen, Reflexionen, Emotionen, Stimmungen usw.) auszuschalten. Die Anleitung sagt, man solle jede Bewegung als „Heben" und „Senken" registrieren, und damit soll lediglich gesagt werden, worauf man genau achten solle; niemals sollte man jedoch die Worte „Heben" und „Senken" buchstäblich wiederholen oder an „Heben" und „Senken" als Wörter denken. Es sollte gar nichts anderes vorhanden sein als die zunehmend klare Bewußtheit des gerade stattfindenden Vorgangs des Sich-Erhebens und Sinkens des Unterleibs ohne irgendwelche mentalen „Hintergrundgeräusche". Auch sollte man nicht in den Atemvorgang eingreifen (durch bewußtes tieferes oder rascheres Atmen), um seine Unterleibsbewegungen deutlicher zu spüren. Wie die ganze vipassana-Entfaltung ist auch diese eine Übung im reinen Beobachten, und jegliche Manipulation, mag sie noch so gut gemeint sein, ist eine Beeinträchtigung.


    Grundübung II
    Obwohl man fest entschlossen ist, sich ausschließlich auf die Unterleibsbewegungen zu konzentrieren, kann es sein, daß sich zwischen dem Registrieren des Hebens und des Senkens andere geistige Aktivitäten regen (und im Fall des Anfängers werden sie es fast sicher tun): Gedanken, Willensimpulse, Phantasievorstellungen usw. kommen vermutlich hoch, und man sollte sie nicht übersehen. Die Art, sich ihrer auf sinnvolle Weise anzunehmen, besteht darin, jede im Geist zu registrieren, und zwar in dem Moment, in dem sie auftaucht.


    Die Anleitung sagt hierzu:
    „Wenn du dir etwas vorstellst, mußt du wissen, daß du das getan hast, und mußt in deinem Geist registrieren: ,Vorstellung'. Wenn dir einfach ein Gedanke kommt, so registriere im Geist: ,Gedanke'. Wenn du über etwas nachdenkst, registriere: ,Nachdenken'. Wenn du etwas tun willst, registriere: Absicht. Wenn dein Geist vom Betrachtungsgegenstand, dem Sich-Erheben und Sinken des Unterleibs, abschweift, registriere: ,Abschweifen' ... Wenn du dir etwas vorstellst oder vor deinem inneren Auge ein Licht oder eine Farbe siehst, achte darauf, zu registrieren: ,Sehen'. Alles, was sich deinem Geist vorstellt, mußt du jedesmal, wenn es auftaucht, registrieren, bis es vorbeigeht."


    Genau die gleiche Verfahrensweise gilt für jegliche Körperbewegung, die man während der Meditationssitzung macht, wie z. B. wenn man Speichel schluckt, den Rücken beugt oder streckt usw. Doch ist es in diesen Fällen wichtig, auch die vorausgehende Absicht zu registrieren, d. h., wenn man z. B. seinen Speichel schlucken will, zu registrieren: „Ich will ... ", und während man ihn tatsächlich schluckt, zu registrieren: „Ich schlucke", und genauso bei allen anderen Bewegungen. Alle körperlichen Bewegungen oder Korrekturen der Körperhaltung sollte man langsam und bedächtig vornehmen, und bei jedem Mal registriert der Übende zunächst das Vorhaben und dann die Ausführung der entsprechenden Verrichtung und kehrt dann wieder dazu zurück, auf das Heben und Senken des Unterleibs zu achten.


    Grundübung III
    Da die Meditationshaltung immer wieder während langer Zeit beibehalten werden muß, ist es ganz natürlich, daß sich Gefühle der Ermüdung, der Steifheit im Körper oder des Einschlafens von Gliedmaßen, Stechen, Spannungen, Schmerzen usw. einstellen können. Tritt dies ein, so sollte man seine Aufmerksamkeit direkt auf den Körperteil richten, in dem diese Empfindung auftaucht, und seine Betrachtung damit fortsetzen, daß man registriert: „Müdigkeit", „Steifheit", „Stechen" oder was auch immer, ohne darauf zu reagieren; man sollte also damit genau das gleiche tun wie mit den Bewegungen des Unterleibs. Wenn man diese Sinnesempfindungen einer losgelösten Beobachtung aussetzt (d. h. sich nicht mit ihnen identifiziert), werden sie normalerweise schwächer und hören schließlich ganz auf. Ist. dies eingetreten, so sollte man seine Aufmerksamkeit wieder bewußt auf die Bewegungen des Unterleibs zurückführen. Gelegentlich kann es allerdings vorkommen, daß eine dieser unangenehmen Körperempfindungen immer stärker wird, bis die Müdigkeit oder der Schmerz unerträglich werden. Dann kann man auch seine Haltung ändern. Doch auch in diesem Fall ist es ganz wesentlich, daß man sowohl die Absicht zu jedem einzelnen Schritt als auch dessen Durchführung jedesmal mit voller Bewußtheit registriert. Wenn man z. B. ein Bein ausstrecken und dann wieder in einer etwas anderen Stellung beugen muß, sollte man jede einzelne Phase registrieren: „Absicht ... Lösen ... Strecken ... Beugen ... Boden berühren ... Ruhe (in der neuen Stellung)", und dann wieder zur Beobachtung des Hebers und Senkens des Unterleibs zurückkehren. Es ist sogar gestattet, sich von Zeit zu Zeit hinzulegen, vorausgesetzt, man tut auch dies ganz bedächtig und fährt dann, sobald man liegt, wieder mit der Betrachtung des Hebers und Senkens des Unterleibs fort und kehrt beim leichtesten Anzeichen von Schläfrigkeit zur Sitzhaltung zurück oder schaltet eine Geh-Meditation ein.


    Dieselbe Methode sollte auf alles, was sich ansonsten im Geist während des Übers einstellt, angewandt werden, das heißt, man sollte auf der Stelle jeglichen Gedanken, jeden Wunsch, jede Gefühlsregung, Phantasie usw., die auftauchen können, im Augenblick ihres Auftauchens registrieren. Dabei aber sollte man nicht in die Einzelheiten gehen, sondern schlicht registrieren: „Denken ... Wollen ... Fühlen ... Phantasieren ..." usw.
    Diese Haltung ununterbrochener Wachsamkeit und Aufmerksamkeit sollte man nicht nur während der Zeiten der ausdrücklichen Sitz-Meditation einnehmen, sondern den ganzen Tag hindurch beibehalten, angefangen vom Aufwachen am Morgen bis zum Zubettgehen am Abend. Beim Aufwachen sollte man sich sofort auf das Heben und Senken seines Unterleibs konzentrieren. Wenn man dann aufsteht, sollte man jede der dazu notwendigen Bewegungen achtsam machen, d. h. das Zurückschlagen der Bettdecke, das Aufsitzen im Bett, das Schwingen der Beine über die Bettkante, das Setzen der Füße auf den Boden, das Hinstehen usw. Und so sollte man den ganzen Tag lang weitermachen, genau und aufmerksam auf alles achten, was man tut, während man sich wäscht oder ein Bad nimmt, sich anzieht, ißt (d. h. sich an den Tisch setzt, den gedeckten Tisch überblickt, die Hand ausstreckt, ein Stück ergreift, es zum Mund führt, es in den Mund nimmt, seinen Kontakt mit Lippen, Zunge und Gaumen spürt, es kaut, schmeckt, schluckt usw.), zur Meditationshalle geht, sich hinsetzt, anfängt, die Bewegungen seines Unterleibs zu betrachten. Und so soll das weitergehen, bis man abends zu Bett geht und auch dann wieder genau auf jede einzelne Verrichtung achtet: wie man das Bett herrichtet, sich hineinlegt, sich mit der Bettdecke zudeckt usw., und dann wiederum dazu zurückkehren, die Unterleibsbewegungen zu beobachten und achtsam seine zunehmende Schläfrigkeit registrieren, bis man schließlich einschläft.


    Das ist im Wesentlichen eine Körperbetrachtung, die sich auf den Tastsinn gründet, und daher wird empfohlen, auf Seh- oder Hörreize zu verzichten. Gibt es jedoch bestimmte Geräusche oder Gesichtseindrücke, die stark genug sind, um sich aufzudrängen, so sollte man mit ihnen wie mit allem anderen, was auftaucht, umgehen, d. h. sich ihnen bewußt einen Augenblick lang widmen, im Geist registrieren: „Sehen", „Hören" und dann wieder zum Sich-Erheben und Sinken des Unterleibs zurückkehren.
    Kurz, während jedes Augenblicks seiner wachen Stunden, bei Tag und bei Nacht, sollte man sich jeder Tat, jedes Gedankens oder Gefühls voll bewußt sein und darauf achten, und immer, wenn es nichts Besonderes zu registrieren gibt, sollte man wieder dazu zurückkehren, das Heben und Senken seines Unterleibs zu betrachten. Darin besteht die ganze Praxis der Übung der „Wissensklarheit bei jeglicher Verrichtung", die sich als durchgängige Haltung das Achten auf einen Hauptgegenstand zugrunde legt, nämlich auf das Heben und Senken des Unterleibs.


    Die Geh-Meditation in den Pausen
    In den Pausen zwischen den Sitz-Meditationen kann man sich mit achtsamem Gehen oder mit der Geh-Meditation beschäftigen, die etwas Abwechslung ins Spiel bringt und hilft, die eingeschlafenen Gliedmaßen oder den steifen Körper zu entspannen, ohne dabei die geistige Sammlung zu unterbrechen. Zudem sollte man den ganzen Tag über immer, wenn man sich von einem an einen anderen Ort bewegen muß, z. B. von der Meditationshalle in den Speisesaal, ganz bewußt gehen, d. h. voll und ganz auf die jeweilige Bewegung achten, zumindest in drei Phasen (Fuß heben ... vorwärtsbewegen ... senken und aufsetzen) oder in zwei (heben und vorwärts ... senken und aufsetzen).


    Grundübung IV
    In Grundübung Il wurde erklärt, der Übende solle sich während der Sitz-Meditation für seine Sinneswahrnehmung vorrangig auf die Bewegungen seines Unterleibs konzentrieren aber gleichzeitig immer voll bewußt auf alles achten, was sich sonst in seinem Geist regt. Das war gedacht als Mittel, sich in eine Haltung ständigen vorsätzlichen und achtsamen Beobachtens einzuüben. In Grundübung IV wurde diese Haltung beständiger, ununterbrochener Achtsamkeit so weit ausgedehnt, daß sie sich schließlich auf alles erstreckte, was den ganzen Tag lang in der Psyche aufkommt – auf alle mentalen, willensmäßigen und affektiven Vorgänge. Wenn man sich z. B. über seinen Fortschritt freut, sollte man auf der Stelle in seinem Geist registrieren „Freude", wenn man entmutigt ist, „Entmutigung", wenn man im Geist die Anleitungen durchgeht, um korrektes Üben zu gewährleisten, „Anleitungen überdacht", und wenn man irgendeine Empfindung oder Eingebung analysiert, „Analyse" usw. Es kann gar nicht genug betont werden, daß immer wieder alles darauf ankommt, daß man zu allen wachen Stunden bei Tag und bei Nacht seine Aufmerksamkeit vorsätzlich und voll bewußt aufrechterhält und jederzeit das, was in Körper oder Geist auftaucht, im Augenblick seines Auftauchens registriert. Wenn sich hingegen nichts Bemerkenswertes einstellt, sollte man zum Achten auf das Heben und Senken des Unterleibs zurückkehren.


    Abschluß
    Das ist also in kurzen Zügen die Methode. Die Unterteilung in vier Grundübungen hat rein methodische Gründe. Sie soll es erleichtern, einem neuen Schüler das Vorgehen zu erklären und ihn bei seinen ersten Versuchen anzuleiten, denn irgendwo muß man ja anfangen. Doch ist ziemlich klar, daß diese vier Übungen keine Alternativen darstellen (es sei denn im mechanischen Sinn, denn beim Sitzen kann man nicht gehen oder sich hinsetzen usw.), sondern sich gegenseitig ergänzen und beim Voranschreiten unterstützen. Von Anfang an, sobald der Meditierende ein gutes Maß an stabiler Konzentration seiner Aufmerksamkeit erreicht hat, achtet er bereits (im Maß seiner derzeitigen Fähigkeit dazu) auf alles, was auftaucht, gleich im Augenblick seines Auftauchens. Auf diese Weise beginnt er, aus seiner eigenen unmittelbaren Erfahrung die Vergänglichkeit aller Phänomene wahrzunehmen und Einsicht in ihre unbeständige und unpersonale Natur zu gewinnen.


    Weitere Informationen:
    http://en.wikipedia.org/wiki/Mahasi_Sayadaw
    http://de.wikipedia.org/wiki/Vipassana

  • Im Folgenden soll die Satipatthana-Methode des burmesischen Laien-Meisters U Ba Khin beschrieben werden. Auch sie wurde entnommen aus dem Buch "Die Meditation, die der Buddha selber lehrte" von Amadeo Sole-Leris.
    (Herder Verlag,1994 ISBN 3451043165, 9783451043161)


    Ein bekannter Lehrer in der Tradition von U Ba Khin ist S.N. Goenka.


    Die Satipatthana-Methode nach U Ba Khin


    U Ba Khins Methode wurzelt in derselben alten Tradition wie diejenige von Mahasi Sayadaw. Auch sie geht von der Praxis der vier Grundlagen der Achtsamkeit aus und nimmt sich als Hauptgegenstand für die Betrachtung den Körper vor. Allerdings hält sie sich wieder enger an die Tradition, denn zur Sammlung des Geistes verwendet sie die direkte Beobachtung des Atmens statt der damit verbundenen Bewegungen des Unterleibs), fängt also mit der Übung der Atmungs-Achtsamkeit an. Ein besonderes Kennzeichen von U Ba Khins Methode ist die besonders große, anhaltende Intensität des Übens während kurzer Zeitabschnitte (die Grundkurse dauern immer nur zehn Tage), um Menschen, die sich gewöhnlich wenig Zeit nehmen können und alsbald wieder zu ihren vielfältigen Alltagsverpflichtungen zurückkehren müssen, ein völliges Eintauchen zu ermöglichen. Aus diesem Grund legte U Ba Khin auch immer das Hauptgewicht auf die praktischen, konkreten Aspekte der Meditationsarbeit und beschränkte die theoretischen oder doktrinären Erläuterungen auf ein Minimum. Worum es ging und geht, ist, das Dhamma aus eigener Erfahrung zu leben (das macht ja das Wesen der Lehre des Buddha aus), indem man eine praktische, direkte und intensive Methode anwendet.


    Kurz skizziert, besteht die Methode darin, zunächst einmal den Geist dadurch zu konzentrieren, daß man die Achtsamkeit auf das Atmen übt. Hat man dadurch konzentrierte Aufmerksamkeit erlangt, so wendet man diese den verschiedenen Teilen seines physikalischen Organismus zu – indem man systematisch den ganzen Körper durchgeht –, um eine zunehmend deutliche und subtile Bewußtheit aller Empfindungen, die sich in ihm einstellen, zu erlangen. Das Ziel ist, mit immer schärferer Klarheit alle auftauchenden Sinnesempfindungen wahrzunehmen, ganz gleich, welcher Art sie sein mögen, einschließlich derjenigen, die normalerweise unterhalb der Schwelle des unkonzentrierten Alltagsbewußtseins sind. Mittels dieser Wahrnehmung soll man dann die zunehmend vollere und durchdringendere Bewußtheit erwerben, daß alle körperlichen und geistigen Phänomene, deren Äußerungen die Sinnesempfindungen sind, ständig entstehen und wieder vergehen. Dabei handelt es sich natürlich um die Betrachtung des Körpers und der Sinnesempfindungen (also um die ersten beiden der vier Grundlagen der Achtsamkeit). Die anderen beiden Grundlagen der Achtsamkeit (Betrachtung des Geistes und der Geistobjekte) werden bei dieser Meditationsmethode nur insoweit eingeübt, als sie dazu beitragen, die Bewußtheit ununterbrochen aufrechtzuerhalten: alle Gedanken, Gefühle usw. registriert man bei ihrem Auftreten, aber man lenkt dann sofort seine Aufmerksamkeit auf die körperlichen Empfindungen zurück, denn durch deren klare Wahrnehmung wird der Geist geläutert. Man registriert nur kurz den Gedanken (aber geht nicht einmal so weit, ihn zu benennen; das ist also anders als bei Mahasi Sayadaws Technik) und kehrt dann auf der Stelle wieder zur Betrachtung des Körpers und der Sinnesempfindungen zurück, die das Wesen dieser Methode ausmacht. In diesem Sinn hat der Buddha gesagt: „In genau diesem klafterlangen Körper mit seinen Wahrnehmungen und seinem Geist erschließe ich die Welt und den Ursprung der Welt und das Erlöschen der Welt und den Pfad zum Auslöschen der Welt."


    In dem Maß, in dem die Wahrnehmung der körperlichen Vorgänge feiner und präziser wird, entwickelt der Meditierende die zunehmende Bewußtheit der Tatsache, daß sie alle unbeständig und vorübergehend sind. Das ist die Erfahrung von anicca, der radikalen Unbeständigkeit von allem, was ist. In U Ba Khins Terminologie wird diese Erfahrung als „Aktivierung von anicca„ beschrieben, und dieses Aktivieren, das heißt die experimentelle Bewußtheit der Unbeständigkeit, ist es, was – wenn sie zunimmt – nach und nach unsere Psyche von den Süchten, Anhänglichkeiten, Abneigungen, Ablehnungen, Ängsten, Befürchtungen, Hoffnungen usw. reinigt, von denen wir ständig besetzt sind. Davon habe ich bereits wiederholt als von einer Umwandlung gesprochen, einem Neugeordnetwerden der menschlichen Psyche; das hat sogar seine Auswirkungen auf den physikalischen Organismus und behebt oft viele psychosomatische Beeinträchtigungen. U Ba Khin beschrieb diesen befreienden Aspekt der Erfahrung als nibbäna dhätu, was wörtlich „nibbana-Element" bedeutet. Das dient der Verdeutlichung für die Praxis, aber genaugenommen handelt es sich schlicht und einfach um ein Synonym für das traditionelle nibbana. Wenn die Schriften von nibbana dhatu sprechen, meinen sie die lebendige Erfahrung des nibbana. In U Ba Khins Gebrauch zielt der Begriff auf die dynamische, prozeßhafte Natur der nibbanischen Erfahrung. Wie immer stehen wir hier wieder vor der Schwierigkeit des Versuchs, mit begrifflichen Mitteln etwas zu beschreiben, was mit Begriffen nicht zu fassen ist. Doch sehr ins unreine gesprochen könnte man sagen: Wenn der Meditierende immer tiefer in die wahre Natur aller Phänomene eindringt, indem er sich zunehmend klarer ihrer anicca bewußt wird, das heißt also, indem er immer durchdringender durchschaut, daß sie unbeständig sind, kommt eine Zeit, in der sich ein ganz eigener Erfahrungsmodus oder ein „Element" (dhatu) einstellt, welcher bzw. welches die Wirkung hat, alle Süchte, Abneigungen und dergleichen auszumerzen. Um in etwa zu verstehen, was hier vorgeht (aber ohne hier zu unterstellen, man verwende exakt die Terminologie der westlichen Psychologie), könnte man sagen, daß die Psyche durch eine Art Prozeß der Abreaktion Schritt für Schritt von den Neurosen befreit wird, die im Grunde das Gewebe dessen ausmachen, was wir unsere Persönlichkeit zu nennen pflegen. Und was noch mehr ist, das Hängen an dieser „Persönlichkeit" und an „ihrer" Welt überhaupt wird schließlich behoben. „Auf dieselbe Weise, wie Benzin durch Anzünden weggebrannt wird, werden durch das nibbana dhatu die negativen Kräfte (Unreinheiten oder Gifte) im Innern ausgemerzt. Dieses nibbana dhatu aber erzeugt der Schüler durch die echte Bewußtheit des anicca im Lauf seiner Meditation", pflegte U Ba Khin zu sagen. Und er betonte:
    „Die Erfahrung von anicca, wenn richtig entwickelt, legt die Axt an die Wurzel seiner körperlichen und geistigen Übel und entfernt Schritt für Schritt, was schlecht in ihm ist, d. h. die Ursachen solcher körperlicher und geistiger Übel. Diese Erfahrung ist nicht Menschen vorbehalten, die der Welt entsagt haben und heimatlos geworden sind. Sie gibt es auch für den Weltmenschen, der ein Familienleben führt. Trotz der Rückschläge, die einen Weltmenschen in diesen Tagen ruhelos machen können, kann ein kompetenter Lehrer oder Führer dem Studenten helfen, die Erfahrung von anicca in verhältnismäßig kurzer Zeit in sich zu aktivieren. Hat er sie erst einmal aktiviert, ist es nur noch notwendig, daß er sich weiterhin einsetzt, um sie zu erhalten. "


    Und natürlich ist es auch notwendig, daß er sie weiterentwikkelt. Aus dem Grund ist es unerläßlich, daß man nach Abschluß eines Kurses regelmäßig für sich selbst weiterübt. Doch U Ba Khin als ungemein pragmatischer Mensch erwartete von einem vielbeschäftigten Weltmenschen nicht, daß er Unmögliches zustande bringe:
    „Es ist nicht notwendig, daß er ständig die Erfahrung des anicca wieder aktiviert. Es wird genügen, wenn er das auf kurze, aber regelmäßige Wiederholungen beschränkt, zu Zeiten, die er sich am Tag oder zur Nachtzeit für diesen Zweck ausspart. Zumindest in diesen Zeiten muß man dann versuchen, seine Aufmerksamkeit in den Körper hinein konzentriert zu halten und seine Bewußtheit ganz auf anicca zu richten; das heißt, seine Bewußtheit von anicca sollte von Augenblick zu Augenblick so ununterbrochen weitergehen, daß er keine diskursiven oder zerstreuenden Gedanken dazwischen eindringen läßt; denn diese sind für den Fortschritt ausgesprochen schädlich."


    Und aus der Autorität seiner eigenen Erfahrung schloß er:
    „Wir hegen keinerlei Zweifel, daß alle, die sich offenen Geistes einem Trainingskurs unter einem kompetenten Lehrer unterziehen, auch ganz klare Ergebnisse erzielen werden – ich meine Ergebnisse, die hier und jetzt als gut, konkret, lebendig und persönlich erfahren werden, Ergebnisse, die sie in guter Verfassung und für den Rest ihres Lebens in einem Zustand des Wohlbefindens und des Glücks halten werden."


    Weitere Informationen:
    http://en.wikipedia.org/wiki/U_Ba_Khin
    http://www.subk-vipassana.de/
    http://www.ubakhin.ch/

  • Hier wird ein Intensivkurs nach der Methode von U Ba Khin beschrieben. Entnommen aus "Die Meditation, die der Buddha selber lehrte" von Amadeo Sole-Leris.
    (Herder Verlag,1994 ISBN 3451043165, 9783451043161)


    10-Tage-Intensivkurs nach U Ba Khin


    Voraussetzungen: Einführung und Disziplin
    Beim Einschreiben für den Kurs wird jedem Teilnehmer eine Broschüre ausgehändigt, die eine Einleitung in die Technik und die Einzelheiten der Disziplinarordnung enthält, die er oder sie während der nächsten zehn Tage einhalten soll. In Kapitel 1 haben wir bereits ein Zitat aus der Einleitung gebracht, das betont, die Lehre (Dhamma) sei „ein universales Heilmittel für universale Probleme. Er hat nichts zu tun mit irgendeiner organisierten Religion oder Sekte". Ganz kurz und in einfachen Begriffen, die keinerlei Vorkenntnisse über Meditation oder den Buddhismus erfordern, fährt dann die Einleitung fort, zu erklären, was vipassana ist und wozu es nützt. Ausdrücklich wird gesagt: „es ist eine Lebenskunst, die das Individuum von allem Negativen in seinem Geist wie Zorn, Habgier, Unwissenheit usw. befreit", und „eine Übung, die positive, kreative Energie zur Besserung des Individuums und der Gesellschaft entwickelt". Sodann erklärt sie, daß „die vipassana-Meditation auf die höchsten spirituellen Ziele völliger Befreiung und voller Erleuchtung zielt. Ihr Zweck besteht nie allein darin, körperliche Krankheiten zu heilen, jedoch als Nebenprodukt der geistigen Läuterung werden viele psychosomatische Gebrechen ausgemerzt. In Wirklichkeit aber rottet vipassana die drei Ursachen jeglichen Unglücks aus: das Begehren, die Abneigung und die Unwissenheit. Bei beständiger Übung behebt die Meditation die im Alltagsleben aufgebauten Spannungen und löst die Knoten, die durch die eingefleischte Gewohnheit geknüpft sind, auf unausgeglichene Weise auf angenehme und unangenehme Situationen zu reagieren."
    Die Disziplinarordnung greift auf die acht Sittenregeln zurück, die traditionellerweise bei buddhistischen Einkehrzeiten eingehalten werden; wir haben sie bereits oben im Zusammenhang mit Mahasi Sayadaws Kursen aufgezählt. Um bei der Übung der Achtsamkeit ein Höchstmaß an ununterbrochener Konzentration zu erreichen und so streng wie möglich alle Ablenkungen auszuschalten, wird zudem von allen Teilnehmern verlangt, vom Anfang des Kurses bis zum Morgen des letzten Tages vollständiges Stillschweigen zu beobachten. Es ist bekannt als „edles Schweigen" und wird definiert als „Schweigen von Körper, Sprache und Geist", denn nicht nur das Sprechen, sondern auch jegliche andere Form der Kommunikation, z. B. durch Körpergesten, Zettelschreiben usw., soll vermieden werden. jeder Schüler und jede Schülerin muß sich voll und ganz und ununterbrochen auf die eigene Übung konzentrieren. Doch können die Schüler, wenn notwendig, mit dem Lehrer sprechen (sie werden auch in der Praxis von Zeit zu Zeit zu einer Aussprache geholt, um ihren Fortschritt zu beurteilen und eventuell auftretende Probleme zu besprechen), und natürlich können sie sich auch an jedes Mitglied des Verwaltungspersonals wenden, wenn das wegen irgendwelcher praktischer Dinge oder Notwendigkeiten unerläßlich ist; doch sollen die Kontakte immer auf ein absolutes Minimum beschränkt bleiben. Außerdem werden die Schüler angewiesen, das Gelände des Kurses während der gesamten Dauer nicht zu verlassen, und keinerlei Kontakte mit der Außenwelt sind gestattet (z. B. keine Telefonate, Briefe oder Besuche), außer in Notfällen.


    Der Arbeitstag beginnt um 4 Uhr morgens und endet zwischen 21.30 und 22 Uhr. Er ist ganz dem Üben gewidmet, mit angemessenen Pausen für die Mahlzeiten und das Ausruhen. Ungefähr elf Stunden lang wird meditiert, im Wechsel von Zeiten individuellen Übens und Gruppensitzungen unter Anleitung des Lehrers. Dazu ist jeden Abend ein Vortrag des Lehrers, der eine Stunde oder länger dauert. Darin bietet er alle notwendigen Informationen und Anleitungen über verschiedene Aspekte von Lehre und Übung. Am Ende dieses Vortrags haben die Schüler Gelegenheit, Fragen zu stellen. Die Schüler können auch um individuelle Aussprachen mit dem Lehrer bitten. Dafür ist täglich eine bestimmte Zeit festgesetzt.



    Praktische Übungen
    Erster und zweiter Tag
    Die ersten beiden Tage sind ganz der Atmungs-Achtsamkeit gewidmet. Der Schüler setzt sich in einer bequemen Haltung hin, vorzugsweise mit verschränkten Beinen (aber nicht notwendigerweise; worauf es vor allem ankommt, ist, diese Haltung geraume Zeit lang unverändert beibehalten zu können). Während der ersten drei Tage kann man die Haltung eventuell ändern, falls sie zu unbequem wird, aber nicht mehr als unbedingt notwendig. Bei allen Übungen hält man die Augen geschlossen. Der Schüler atmet bei geschlossenem Mund durch die Nase und konzentriert sich auf das Gefühl des Luftzugs, wie er ein- und ausströmt. Auf dieser Stufe umfaßt die Beobachtung den gesamten Innenbereich der Nase, die Nasenlöcher und die Oberlippe unter den Nasenlöchern. Es ist wesentlich, sich strikt auf diesen Bereich zu beschränken und sich keinen anderen Stellen zuzuwenden, die ebenfalls mit dem Atemvorgang zu tun haben, wie etwa der Kehle, der Brust oder dem Zwerchfell.


    So sitzt man also ganz ruhig da, hellwach, aber entspannt, und verfolgt jeden Zug des Ein- und Ausatmens ohne Unterbrechung von Anfang bis Ende. Man beobachtet die Sinnesempfindungen, gleich welcher Art: Berührungsempfindungen des Luftstroms, Temperatur, Intensität und Dauer jedes einzelnen Atemzugs usw. Man bemüht sich darum, so genau und voll bewußt wie möglich auf die präzise Qualität jeder einzelnen Sinnesempfindung zu achten, aber versucht nie, sich irgendeine bestimmte Empfindung herbeizuführen oder vorzustellen. Zu Anfang kann es passieren, daß man überhaupt keine bestimmte Sinnesempfindung wahrnimmt; dann sollte sich der Schüler davon nicht verwirren lassen, sondern schlicht „nichts" registrieren und ganz ruhig weitermachen. Auch die Abwesenheit jeglicher Sinnesempfindung ist eine Erfahrung, und man sollte sich ihrer als solcher bewußt sein. Ist eine Sinnesempfindung vorhanden, so beobachtet der Schüler genau, wo sie ist: im Naseninnern oder an den Nasenlöchern, rechts oder links oder beidseitig, nur an einer Stelle oder an mehreren, oder überall. Auch auf jede leichte Veränderung achtet man genau: wenn der Luftstrom stärker oder schwächer wird, zarter oder heftiger, länger oder kürzer. Dabei sollte man den Atem immer ganz ungezwungen kommen lassen, ohne ihn irgendwie zu zwingen oder zu beeinflussen.
    Jegliche Zerstreuung, die durch sensorische Reize geweckt wird (außer den vom Atemvorgang in der umschriebenen Zone erzeugten) oder mentalen oder affektiven Quellen entspringt, sollte man auf der Stelle beheben, indem man sie mental registriert, um sich ihres Auftretens klar bewußt zu sein, und dann sofort wieder zum Achten auf das Atmen zurückkehrt.



    Dritter Tag
    Man übt weiter die Atmungs-Achtsamkeit , aber verringert jetzt die Zone der Achtsamkeit auf die Zone der Nasenspitze (d. h. der Ränder der Nasenlöcher) und den direkt unter den Nasenlöchern gelegenen Teil der Oberlippe. Dabei geht es darum, die Konzentration zu verstärken und zu verfeinern, indem man sich noch stärker auf eine eng umgrenzte Zone beschränkt.



    Vierter Tag
    Man fängt wieder mit der Atmungs-Achtsamkeit wie am dritten Tag an, aber nach einiger Zeit geht der Schüler zur Vollübung der vipassana über, wobei er hauptsächlich die Betrachtung des Körpers übt. Der erste Schritt dazu besteht darin, seine Achtsamkeit nur noch auf den schmalen Bereich der Oberlippe unter den Nasenlöchern zu lenken (und nicht mehr auf die Nasenlöcher). Ist der Geist so noch intensiver auf diesen einen Punkt konzentriert, so läßt man davon ab, seine Aufmerksamkeit auf die durch den Atemvorgang verursachten Sinnesempfindungen zu konzentrieren, und konzentriert sich jetzt ganz auf die von innen her (also nicht durch Berührung, Temperatur, Bewegung usw. des Luft-Stroms) verursachten Sinnesempfindungen an derselben Stelle, auf die man sich seither konzentriert hatte, also auf die Mitte der Oberlippe. Das ist der Augenblick des Übergangs von der Betrachtung nur des Atmens zur Betrachtung des Körpers als solchen und der in ihm auftauchenden Sinnesempfindungen (was, wie man sich erinnern wird, die beiden ersten Grundlagen der Achtsamkeit sind). Stellt sich zunächst überhaupt keine Sinnesempfindung ein, so registriert man im Geist „nichts" und wahrt ununterbrochen seine Achtsamkeit. Ist man angemessen konzentriert, wird man sich über keinen Mangel an von innen her aufkommenden Sinnesempfindungen, die man beobachten kann, zu beklagen haben. Aus der Wissenschaft wissen wir allzugut, daß unser Organismus unablässig von unzähligen biologischen, chemischen und elektrischen Prozessen brodelt (wie der Blutzirkulation, dem Stoffwechsel der Körpergewebe, den Impulsen, die durch die Nervenbahnen rasen usw.) und daß sich vieles anderes unablässig auf der molekularen, atomaren und subatomaren Ebene abspielt. Von alldem wissen wir mit dem Verstand, aber normalerweise bleibt es in unserem Alltagsleben unterhalb der Schwelle unserer bewußten Wahrnehmung, indes unser Geist seinen bewußten, hauptsächlich nach außen gerichteten Interessen nachgeht. Was man jetzt unternimmt, ist also, sich in direkter Erfahrung dieser normalerweise unterschwelligen Phänomene klar und deutlich bewußt zu werden.


    Zu Anfang nimmt man natürlich in diesem kleinen Bereich der Oberlippe leichter die gröberen und intensiveren Phänomene wahr, wie etwa kribbelnde oder pulsierende Empfindungen, Temperaturschwankungen usw. Was immer es sei, man sollte es lediglich mit der größtmöglichen Klarheit und Präzision beobachten, ohne irgendwie zu reagieren und ohne seinem Geist im mindesten zu erlauben, entweder darüber nachzudenken, um was es sich dabei handeln könnte, oder in unwichtige Gedankengänge abzuschweifen.


    Ist dann die Achtsamkeit auf die Wahrnehmung der von innen her auf der Oberlippe auftretenden Vorgänge und Prozesse konzentriert und darin stabilisiert, so ist der Schüler in der Lage, mit der methodischen Betrachtung seines ganzen Körpers weiterzumachen. Das geschieht zum ersten Mal immer bei einer Gruppensitzung unter der genauen Anleitung durch den Lehrer. Der Mittelpunkt der konzentrierten Aufmerksamkeit wird jetzt von der Oberlippe oben auf den Kopf verlegt. Dann konzentriert sich der Schüler einige Zeit auf diesen neuen Punkt, bis er konstant die dort (wie vorher auf der Oberlippe) von innen her auftretenden Sinnesempfindungen wahrnimmt. Dann geht er Schritt für Schritt seinen Körper vom Kopf bis zu den Fußspitzen durch, wobei er sich methodisch von einem Teil zum nächsten bewegt, ohne irgendeinen auszulassen, und ganz präzis darauf achtet, welche Sinnesempfindung sich jeweils gerade einstellt. Er sollte niemals versuchen, sich bestimmte Sinnesempfindungen vorzustellen oder sie herbeizuführen, sondern einfach das beobachten, was da ist. Ist keine Sinnesempfindung wahrzunehmen, sollte er „nichts" registrieren und weitermachen, achtsam und ohne Eile. Wenn man dieses schrittweise Durchprüfen des ganzen Körpers immer und immer wieder macht, wird man feststellen, daß die Achtsamkeit immer besser wird und bislang blinde Flecken lebendig werden.


    Beim ersten Mal (und auch noch die nächsten paar Male, bis der Schüler mit der Technik genügend vertraut ist) geht man jeden einzelnen Körperteil genau nach der präzisen, schrittweisen Anleitung des Lehrers durch. Um Nachhaltigkeit und Wirkung dieser Übung, bei der es sowohl um Achtsamkeit als auch um Nicht-Reagieren geht, zu vertiefen, dauert diese erste Körperbetrachtungs-Sitzung ohne Unterbrechung zwei Stunden, und sie wird mit "fester Entschlossenheit" (adhitthana) durchgeführt. Das bedeutet, daß man fest entschlossen bleibt, in der Sitzhaltung, die man eingenommen hat, unbeweglich volle zwei Stunden zu verharren, mag sie auch noch so schmerzlich unbequem werden. Das bietet eine hervorragende Gelegenheit, achtsam und gleichmütig die im Körper sich meldenden Sinnesempfindungen zu betrachten, die bei Anfängern gewöhnlich ziemlich intensiv werden, nachdem sie einige Zeit lang reglos dagesessen sind, wie etwa Verspannungen und Schmerzen, Einschlafen von Gliedmaßen usw. Wenn sich ein derartiges unangenehmes Gefühl einstellt, wird der Schüler angewiesen, den Schmerz in innerer Freiheit als eine unter anderen Sinnesempfindungen zu registrieren usw., sich jedoch auf keinen Fall zu bewegen, um sich ihn zu erleichtern. Auf diese Weise kommt man durch direkte Erfahrung zu der Einsicht, daß sogar unangenehme Gefühle und Schmerzen, die anfangs ziemlich heftig sind, nicht andauernd und unveränderlich sind, und man stellt fest, daß sie wie alle anderen beobachteten körperlichen Sinnesempfindungen dazu neigen, zu fluktuieren, sich zu verändern und zu.


    Die erste ununterbrochene zweistündige vipassana-Sitzung ist ziemlich mühsam. Neue Schüler schaffen es nicht immer, sie beim ersten Mal die ganze Zeit durchzuhalten. Die psychologische Wirkung auf den, der es schafft, ist bemerkenswert – man spürt, daß man eine geistige Schranke durchbrochen hat. Indem man alles, was nur immer auftauchen mag, beobachtet und annimmt, ohne sich an bequeme Sinnesempfindungen oder angenehme Gedanken zu hängen und ohne dem Schmerz oder zerstreuenden Gedanken Widerstand zu leisten oder sie zu meiden zu versuchen, erhascht man einen ersten Blick auf die Erfahrung der Hinnahme, die das Wesen von Vipassana ausmacht.
    Von jetzt an versucht man, alle Sitzungen in „fester Entschlossenheit", d. h. völlig reglos, durchzuhalten. Im allgemeinen dauert aber jetzt jede Sitzung höchstens noch eine Stunde am Stück (obwohl fortgeschrittenere Schüler natürlich diese feste Entschlossenheit" fruchtbarerweise auch noch längere Zeit am Stück durchhalten können).
    Der übrige Tag wird dem weiteren Üben, der Betrachtung der einzelnen Teile des Körpers gewidmet, wobei man sich immer an dieselbe Reihenfolge hält, angefangen vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. Dabei wechseln immer wieder Gruppensitzungen mit individuellen Übungszeiten ab.



    Fünfter bis achter Tag
    Von jetzt an verbessert und verschärft man immer mehr seine Wahrnehmung der Phänomene, wie sie auftauchen, indem man beharrlich bei der Betrachtung des Körpers bleibt (wobei man allerdings gleichzeitig auch immer die Zustände und Inhalte seines Geistes beobachtet, sobald sich solche bemerkbar machen, wie für den ersten Tag beschrieben, um die ununterbrochene Fortdauer der Achtsamkeit zu gewährleisten). Die Grundübung besteht weiterhin darin, systematisch immer wieder in der beschriebenen Weise die einzelnen Körperteile durchzugehen, aber jetzt führt man nach und nach Variationen in der Reihenfolge und der genauen Einstellung der Aufmerksamkeit ein: Man überprüft die Oberfläche oder die tieferen Schichten (abwechselnd oder kombiniert), geht die Körperteile in umgekehrter Reihenfolge durch (d. h. vom Kopf bis zu den Zehen, und dann von den Zehen bis zum Kopf, statt wie anfangs immer wieder in der gleichen Reihenfolge), Achtsamkeit auf mehreres gleichzeitig (d. h., man betrachtet größere Einheiten des Körpers auf einmal, z. B. beide Arme gleichzeitig, oder Brust und Rücken, oder beide Beine). Von Zeit zu Zeit kann man auch die Geschwindigkeit der Übung ändern –einmal alles ganz langsam durchgehen, dann alles ganz schnell überfliegen – oder die Reihenfolge (vorausgesetzt, man läßt keinen Körperteil aus). Man wird schnell feststellen, daß das Einführen von Abwechslungen den Sinn hat, die Übung so umfassend und erschöpfend wie möglich zu gestalten und dafür zu sorgen, daß man ein Höchstmaß an wacher Aufmerksamkeit beibehält, indem man jeder Ermüdung des Geistes infolge allzu großer Monotonie gegensteuert.


    So übt der Schüler also immer weiter (aber immer entspannt, denn zu angestrengtes Üben verdirbt das Unternehmen), um seine Wahrnehmung der Sinnesempfindungen des Körpers zu verfeinern und zu bereichern, und er achtet immer genau darauf, daß sein Geist nicht abschweift. Er bemüht sich unablässig auf dem feinstmöglichen Niveau um vollste Achtsamkeit auf alle Vorgänge in seinem Körper und Geist.
    Darüber hinaus wird den Schülern dringend nahegelegt, sich alle erdenkliche Mühe zu geben, um die Geisteshaltung vorsätzlicher, bewußter Achtsamkeit auf jegliche Tätigkeit aufrechtzuerhalten, der sie sich im Lauf des Tages außerhalb der ausdrücklichen Meditationszeiten widmen müssen. Das heißt, beim Essen, beim Aufstehen am Morgen oder Zubettgehen am Abend, beim Hin- und Hergehen, beim Waschen, Anziehen usw. sollten sie als ergänzende Übungen die Achtsamkeit auf Haltungen und Bewegungen des Körpers und die Wissensklarheit bei jeglicher Verrichtung pflegen. Diese Übungen sind nicht nur in sich selbst förderlich, sondern erleichtern es auch, zu einer intensiveren Form der Achtsamkeit zurückzukehren, wenn man sich wieder in der ausdrücklichen Meditationszeit an die Hauptübung begibt.


    Die Wirkungsweise dieser Methode
    An diesem Punkt mag es nützlich sein, sich noch einmal in Erinnerung zu rufen, wie sich die klarblickende Erkenntnis Stufe um Stufe entwickelt, und die psychologischen Mechanismen, die dabei im Spiel sind, kurz zu skizzieren. Zu diesem Zweck benützen wir so weit wie möglich die westliche Terminologie. Natürlich geht es jetzt nicht darum, die „Reinigung des Geistes", wie sie von der Lehre des Buddha verstanden wird, wegzuerklären, indem man sie auf nichts anderes als eine Art Psychotherapie zurückführt. Wir wollen vielmehr versuchen, das, worum es hier geht, begrifflich etwas leichter fassbar zu machen, indem wir es mit bekannteren Begriffen formulieren.


    Dabei ist der wesentliche Punkt, den man sich immer vor Augen halten muß, daß es von der Entwicklung sowohl der Achtsamkeit als auch des Gleichmuts oder des Nicht-Reagierens abhängt, wie weit man in der Erkenntnis kommt, und daß diese beiden Qualitäten gleich wichtig sind. Wiederholen wir also kurz:
    Die Achtsamkeit, angewandt auf die unablässige Beobachtung aller körperlichen Sinnesempfindungen (von den intensivsten bis zu den flüchtigsten) führt zu der ureigenen Erfahrung (was etwas ganz anderes ist als das rein intellektuelle Wissen), daß der Körper ein kompliziertes Netzwerk aus ständig sich verändernden Phänomenen ist (die oft auf subtilerem Niveau als Pulsieren oder als Schwingungen wahrgenommen werden), d. h. in der Terminologie der modernen Physik, ein Gewebe hochenergetischer Prozesse, von denen jeder unendlich kurz dauert und die mit unvorstellbar hoher Geschwindigkeit und Frequenz interagieren. Das ist das erfahrungsmäßige Wissen (in buddhistischen Begriffen) der Unbeständigkeit (anicca) und der Unpersönlichkeit (anatta) der Phänomene und, als Konsequenz daraus, ihres wesentlich unbefriedigenden Charakters (dukkha). Dies ist die Entfaltung des Klarblicks (vipassana) und, die also im wesentlichen darin besteht, diese Erfahrung dadurch herbeizuführen, daß man in voller Bewußtheit auf die Sinnesdaten und geistigen Prozesse achtet, die sich normalerweise unterschwellig abspielen.


    Gleichmut bedeutet, daß man sich alles, was im Verlauf der achtsamen Überprüfung zutage tritt, in Ruhe anschaut, ohne darauf positiv oder negativ zu reagieren; ohne sich an angenehme Sinnesempfindungen zu hängen oder sich vor unangenehmen zurückzuziehen. Man beobachtet einfach jedes einzelne Phänomen als – wie es traditionell ausgedrückt wird – „eine Sinnesempfindung unter vielen anderen". Man muß sich also darüber im klaren sein, daß man üben muß, nicht zu reagieren. Das Unterdrücken von auftauchenden Reaktionen ist nutzlos, denn schon der Akt der Unterdrückung setzt einen Wunsch, ein Wollen voraus („Ich will nicht reagieren"). Solange man auf eine Beobachtung noch reagiert, ist das ein Zeichen dafür, daß man sich noch mit der Erfahrung identifiziert. Die richtige Strategie in einem solchen Fall besteht darin, den hochkommenden Impuls nicht zu unterdrücken, sondern unverzüglich diesen Impuls wiederum zum Gegenstand der achtsamen, innerlich freien Beobachtung zu machen und sich so aus der Identifikation mit ihm zu lösen.
    Man wird schnell feststellen, daß man, indem man nicht reagiert, das übliche Entstehen von Gefühlen pro und contra, von Urteilen, Bewertungen und Wunschvorstellungen unterbindet, samt den damit einhergehenden Spannungen und Stresszuständen, die normalerweise mit jeder Erfahrung einhergehen und die ihrerseits wieder zur Quelle weiterer Reaktionen, Emotionen, Gedanken, Spannungen und Komplexe werden. Damit fängt die Läuterung des Geistes an. Sooft man angesichts von Sinnesempfindungen Gleichmut bewahrt und ihnen zuschaut, wie sie entstehen und wieder vergehen, durchbricht man den Teufelskreis. In diesen Momenten achtsamen Gleichmuts ist der Geist rein. Oder, mit der Tradition gesprochen, in diesem Zustand sammelt man keine neuen karmischen Konsequenzen an. Mehr noch: sooft der Geist – dank der Übung des Gleichmuts – keinerlei neuen Reaktionen hervorbringt, fangen die in früheren Zeiten angesammelten Spannungen, Stresszustände, Komplexe usw. (also die karmischen Konsequenzen) an, aus den unterbewußten in die bewußten Schichten der Psyche aufzutauchen und ins Bewußtsein zu treten. Sie werden nicht unbedingt in ihrer ursprünglichen Form, als Zustände oder Inhalte des Geistes, wahrgenommen, sondern sehr oft eher als damit verbundene Körperempfindungen. Um das anhand eines stark vereinfachten Beispiels zu verdeutlichen: das heißt zum Beispiel, daß sich ein altes psychisches Trauma als stechender Schmerz an einer bestimmten Körperstelle äußern kann oder als Gefühl einer Versteifung, oder als erhöhter Pulsschlag usw., ohne daß man sich bewußt des Ereignisses erinnert, das ursprünglich zu diesem Trauma geführt hat.


    Bei bestimmten offensichtlichen Fällen ist jedermann klar, daß geistige Zustände entsprechende körperliche Auswirkungen haben, etwa, daß Wut sich auf den Blutdruck auswirkt oder Angst auf den Herzschlag. Man weiß auch, daß tiefsitzende Komplexe nachhaltige Folgen für den Körper haben können (wie z. B. in Fällen hysterischer Lähmung), und in zunehmendem Maß erkennt man die psychosomatische Natur vieler Krankheiten. Für unseren Zusammenhang hier ist wichtig, daß alle psychologischen Zustände und Vorgänge anscheinend ihre – gelegentlich extrem schwachen – körperlichen Auswirkungen haben und daß sich diese als Körperempfindungen wahrnehmen lassen, wenn man seine Fähigkeit zu konzentrierter, aufmerksamer Beobachtung genügend entwickelt hat. Die bewußte Wahrnehmung des körperlichen Vorgangs (immer vorausgesetzt, sie erfolgt mit Gleichmut, d. h. nicht-reaktiv) setzt die Energie der psychologischen Entstehungsursache frei und löst sie dadurch sozusagen auf.


    Es besteht hier eine offensichtliche Parallele zu modernen psychotherapeutischen Techniken, bei denen man mentale und nervöse Störungen dadurch behebt, daß man unbewußte mentale Inhalte zu Bewußtsein bringt. Ein wichtiger Unterschied besteht jedoch darin, daß man bei der vipassana-Meditation nicht zu wissen braucht, welcher genaue geistige Inhalt ausgeräumt werden muß; auch gibt es keine spezifischen körperlichen Entsprechungen für die einzelnen geistigen Probleme, sondern ganz grundsätzlich wird eine Akkumulation psychischer Energie die ansonsten als Quelle künftiger psychologischer oder psychosomatischer Störungen aktiv bleiben würde) in dem Augenblick freigesetzt und aufgelöst, in dem sie in Form einer Sinnesempfindung, auf die man nicht reagiert, wahrgenommen wird.


    Wenn man so grob diese Vorstellung darstellt, daß Spannungen der Psyche einfach durch das Wahrnehmen entsprechender Körperempfindungen abgebaut werden, wirkt das natürlich allzu simpel. Aber das soll ja nur ganz grundsätzlich den Mechanismus zu erklären versuchen. In der traditionellen buddhistischen Psychologie gibt es detaillierte und höchst komplizierte Schilderungen dieses Prozesses von Mechanismen und Schichten der menschlichen Psyche, die erst seit jüngster Zeit von westlichen Psychologen studiert werden und den Rahmen dieses Buches überschreiten.
    Worauf es für uns vor allem ankommt, ist, daß diese Technik funktioniert. Aber kehren wir zu unserem Zehn-Tages-Kurs zurück.



    Neunter Tag
    An diesem Tag, und gewissermaßen als Höhepunkt des bisherigen Verlaufs wird der Schüler in die Praxis der Meditation der Güte (mettä) eingeführt. Der Geist, geläutert und still geworden durch die vipassana-Übungen, wird nun in einer Haltung liebevoller Güte auf alle anderen Lebewesen hingelenkt. Nachdem er die jetzt geläufige vipassana-Übung eine Zeitlang praktiziert hat, wird der Schüler aufgefordert, seine Ruhe und sein Gleichgewicht, die er durch das Einüben von Achtsamkeit und Gleichmut gewonnen hat, mit allen anderen Lebewesen zu teilen:
    „Wie glühende Asche Hitze ausstrahlt, so laß von deinem ganzen Körper in alle Richtungen das Gefühl des Friedens und. Wohlwollens ausströmen. Denke an alle Lebewesen – an die dir nahen und die fernen, an diejenigen, die dir gleichgültig gegenüberstehen, und an diejenigen, die dir vielleicht unfreundlich gesinnt sind; an diejenigen, die du kennst, und diejenigen, die du nicht kennst; an nahe und ferne; an menschliche und nicht-menschliche, große und kleine; mache keine Unterschiede. Dein Gefühl der Freundschaft, deine liebevolle Güte strecke sich nach allen aus."


    Wie man sieht, ist das eine regelrechte Übung in der Erweiterung der Güte.Von jetzt an sollte es sich der Schüler zur festen Gewohnheit machen, jede Sitzung seiner vipassana-Meditation mit einer kurzen (fünf bis zehn Minuten langen) Meditation der Güte abzuschließen.



    Zehnter Tag
    Dieser Tag dient der Wiederholung und der Vorbereitung der Rückkehr ins Alltagsleben. Das Gebot des Stillschweigens wird aufgehoben, und an die Schüler werden abschließende Worte der Anleitung und Unterweisung gerichtet. Die wichtigste Empfehlung besteht darin, nun von sich aus die tägliche Übung der vipassana-Meditation beizubehalten, um sich das im Kurs Gewonnene zu erhalten und es weiterzuentwickeln (das Ideale wäre, täglich zwei Stunden zu üben, eine morgens und eine abends oder nachts); auch sollte man sich mit anderen ähnlich ausgebildeten Meditierenden immer wieder treffen und gemeinsam meditieren (wenn möglich, einmal in der Woche).