Fragen zu Anatta und die Rolle des Karmas auf Myanmar

  • Moin,
    auch ich habe zurzeit ein paar Fragen:


    1. Die Lehre vom nicht-selbst.
    Da habe ich noch leichte Verständnisprobleme. Wenn ich es richtig verstanden habe, dann gehen "Enstehen in Abhängigkeit" und Anatta hand-in-hand. Daraus dass alles vergänglich ist und dass alles Leben (sogar alle Dinge) miteinander Verflochten sind, gibt es kein eigenständiges Selbst -> Anatta. Denn nichts existiert aus sich selbst heraus.
    So schreibt es zumindest Thich Nhat Hanh in "Wie Siddhartha zum Buddha wurde".
    Entspricht das der Lehre vom nicht-selbst? Oder nur der Meinung des Mahayana? Wie sieht die Theravada-Schule dies?


    2. Karma
    Da habe ich ein paar kurze Fragen zur aktuellen Lage in Myanmar.
    Lässt sich das Leid, das die Menschen dort erleben mit Karma erklären? Wenn ja, warum richtete sich die Katastrophe dann an die ärmsten der Armen und die brutale Militärregierung blieb bisher verschont? Auch buddhistische Tempel wurden getroffen.
    Ich habe gelesen dass durch schlechtes Karma verursachtes Leid auch kollektiv zuschlägt. Aber ich denke nicht, dass es hier zutrifft, denn ich sehe hier keinen Grund. Es wäre auch "krank" zu glauben, dass alle Betroffenen in ihren früheren Leben karmische Übeltäter gewesen sind.
    Kann auch die Regel von Ursache und Wirkung manchmal falsch sein? Oder schließt diese Regel den Zufall nicht aus?
    Hat das Karma hier "sein Ziel verfehlt" oder geht es einen bitteren Umweg?


    Das war's erstmal für heute. ;)

    "If you can learn to make the mind still, it will be the greatest help to the world."
    (Ajahn Chah)

  • Hallo Grünkern,


    Zu Deiner Frage Nr. 2: ich bin auch eine Noch-nicht-ganz-Buddhistin. Das vorweg, um zu klären, von mir kann hier niemand weise fundierte Sprüche über Karma oder Erleuchtung erwarten. Es ist auch, nehme ich mal an, fast unmöglich, so eine schwere Frage zu beantworten, ohne sich der Gefahr auszusetzen, in dümmliches Geschwafel abzugleiten. Was soll man sich anmaßen über das Karma der armen Menschen zu disputieren?
    Vielleicht findet ja noch ein anderer Forist eine mitfühlende, erhellende, weise Antwort - ich hab keine.


    Nur dieses Gedicht aus "Der Himmlische Jagdhund von Francis Thompson fällt mir dazu ein:


    Die Stimme, die mich rings umgibt,
    Ist wie ein brausend Meer:
    "Ist dir die Erde so verleidet,
    In Scherben gar zerprungen?
    Sieh, alle Dinge fliehen dich,
    Wenn du Mich fliehst!
    Was ich dir je genommen,
    Ich nahm es nicht, um dich zu kränken;
    Nur darum, dass du´s suchen sollst in Meinen Armen.
    All das, was du, mein Kind,
    In deinem Irrtum für verloren glaubst,
    Ich hab´es aufbewahrt für dich daheim.
    Steh´auf!
    Fass´ Meine Hand und komm."

    :rainbow: Gute Wünsche für jede und jeden. :tee:


  • Da hast Du zwei "heiße Eisen" angesprochen,wo die verschiedenen Schulen nicht immer einer Meinung sind.


    Anatta
    Grob gesagt stimmt es schon dass alles in Abhängigkeit entsteht und dadurch nichts Ich/Mein/Selbst ist.Buddha bezog sich vor allem auf die geistigen Prozesse,denn dass das was wir als "äußere Welt" wahrnehmen unbeständig und in ständigem Wandel ist weiß so gut wie jeder.Der Buddha meinte immer das abhängige Entstehen der geistigen Prozesse,welche wir als Ich/Mein/Selbst fehldeuten und die Grundursache für Dukkha (das Unbefriedigende/Leiden) ist.


    Ein Arahant/Buddha sieht nichts mehr als Ich/Mein/Selbst.Nicht als intellektuelles Annehmen der Tatsache sondern er sieht die Wirklichkeit.Und die ist nur der Ablauf unpersönlicher Prozesse.Form,Gefühl,Wahrnehmung,Gestaltungen und Bewußtsein,d.h. die fünf Khandhas,welche ergriffen und als "Persönlichkeit" misinterpretiert werden, werden von einem Arahant/Buddha nicht mehr als "Mein" ergriffen.Es gibt (für den Rest des letzten Lebens) nur noch Erleben,aber keinen Erleber mehr.Folglich gibt es der Wirklichkeit entsprechend nur Nicht-Ich und niemanden mehr der etwas erleben will.


    Kamma
    Naturkatastrophen haben nach meinem Verständnis nichts mit Kamma zu tun.Kamma sind Absichten/Tendenzen im Geist.Einige nennen sie auch "absichtliche Handlungen",unberührt davon ob sie wirklich getan oder nur gedacht/beabsichtigt sind.Ein Ich-behafteter Geist hat diese immer.Es gibt heilsame und unheilsame Handlungen.Absichtliche Handlungen ohne Gedanken von "Ich" oder "Mein" sind kein Kamma.Ein Arahant/Buddha schafft kein neues Kamma,weder heilsames noch unheilsames.


    Kamma ist auch immer Wollen.Das Wollen eines eingebildeten "Ichs" welche Wohlsein/Nicht-Leiden "für sich" möchte und Nicht-Wohlsein/Leiden vermeiden will.


    Der Buddha lehrt die Entstehung und Auflösung von Kamma:

    Zitat


    Bhikkhus, kamma, das aus Gier getan wird, aus Gier geboren ist, durch Gier entstanden ist, durch Gier bedingt ist, solches kamma ist unheilsam (akusala), verwerflich, hat Leid als Ergebnis und führt zur Entstehung von weiterem kamma. Dieses kamma führt nicht zur Auflösung von kamma. Bhikkhus, kamma, das aus Haß getan wird ... aus Verblendung getan wird ... solches kamma ist unheilsam, verwerflich, hat Leid als Ergebnis und führt zur Entstehung von weiterem kamma. Dieses kamma führt nicht zur Auflösung von kamma. Das, bhikkhus, sind die drei Bedingungen für die Entstehung von kamma. ...


    „Bhikkhus, kamma, das aus Gierlosigkeit getan wird, aus Gierlosigkeit geboren ist, aus Gierlosigkeit entstanden ist, durch Gierlosigkeit bedingt ist, solches kamma ist heilsam (kusala), lobenswert,hat Glück als Ergebnis und führt zur Auflösung von kamma. Dieses kamma führt nicht zur Entstehung von kamma.
    Bhikkhus, kamma das aus Haßlosigkeit ... aus Nichtverblendung getan wird ... solches kamma ist heilsam, lobenswert, hat Glück als Ergebnis und führt zur Auflösung von kamma. Dieses kamma führt nicht zur Entstehung von kamma. Das, bhikkhus, sind die drei Bedingungen für die Auflösung von kamma.“
    (A III,112)


    Der Zyklon in Birma ist eine große Katastrophe hat aber wie gesagt nichts mit Kamma zu tun.Das Nichteingreifen und die Ingnoranz der Militärmachthaber aber dagegen sehr wohl. :roll:

  • gruenkern:

    1. Die Lehre vom nicht-selbst.
    Da habe ich noch leichte Verständnisprobleme. Wenn ich es richtig verstanden habe, dann gehen "Enstehen in Abhängigkeit" und Anatta hand-in-hand. Daraus dass alles vergänglich ist und dass alles Leben (sogar alle Dinge) miteinander Verflochten sind, gibt es kein eigenständiges Selbst -> Anatta. Denn nichts existiert aus sich selbst heraus.
    So schreibt es zumindest Thich Nhat Hanh in "Wie Siddhartha zum Buddha wurde".
    Entspricht das der Lehre vom nicht-selbst? Oder nur der Meinung des Mahayana? Wie sieht die Theravada-Schule dies?


    Ich habe den Eindruck, dass das "Entstehen in Abhängigkeit" (besonders) im Mahayana eine Bedeutungsveränderung erfahren hat. Im Palikanon lehrt der Buddha das abhängige Entstehen im Zusammenhang mit dem Problem des Leidens und seiner Auflösung. Da geht es nicht darum, ob und wie "alles Leben" oder "alle Dinge" miteinander verflochten sind, sondern eben wie Leiden entsteht und vergeht, und zwar dort, wo es vorgefunden wird, nämlich im Erleben. Auch die Anatta Lehre bezieht sich nicht auf ein Selbst von oder in den Dingen "da draußen", sondern auf "uns selbst". Es geht um den (vermeintlichen) Erleber und Handelnden. Ein solcher ist nicht aufzufinden. Von allen Dingen gilt: "Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst." Und diese Aussage begründet der Buddha nicht etwa mit z. B. "Verflochtensein", sondern mit der Unbeständigkeit und damit Unzulänglichkeit (Leidhaftigkeit) aller Dinge bzw. alles Erlebens.


    gruenkern:

    2. Karma
    Da habe ich ein paar kurze Fragen zur aktuellen Lage in Myanmar.
    Lässt sich das Leid, das die Menschen dort erleben mit Karma erklären? Wenn ja, warum richtete sich die Katastrophe dann an die ärmsten der Armen und die brutale Militärregierung blieb bisher verschont? Auch buddhistische Tempel wurden getroffen.
    Ich habe gelesen dass durch schlechtes Karma verursachtes Leid auch kollektiv zuschlägt. Aber ich denke nicht, dass es hier zutrifft, denn ich sehe hier keinen Grund. Es wäre auch "krank" zu glauben, dass alle Betroffenen in ihren früheren Leben karmische Übeltäter gewesen sind.
    Kann auch die Regel von Ursache und Wirkung manchmal falsch sein? Oder schließt diese Regel den Zufall nicht aus?
    Hat das Karma hier "sein Ziel verfehlt" oder geht es einen bitteren Umweg?


    "Unverdientes" Leiden ist mit der Lehre vom Karma ebenso unvereinbar wie "unverdientes" Glück. Ich habe "unverdient" bewusst in Anführungszeichen gesetzt, weil Karma nicht unbedingt immer mit unserem "Gerechtigkeitsempfinden" konform geht. Wir sehen nur einen Ausschnitt aus dem Ganzen, und fragen uns dann z. B., warum es schlechten Menschen gut und guten Menschen schlecht geht. Die Ernte des Wirkens geschieht aber oft erst mit zeitlicher Verzögerung. Im Dhammapada heißt es:


    Zitat

    Auch Bösen geht es gut, solang' nicht reif die Tat;
    Doch ist sie ausgereift, geht auf die böse Saat.

    Auch Guten geht es schlecht, solang' nicht reif die Tat;
    Doch ist sie ausgereift, geht auf die gute Saat.


    Außerdem kann sich die Ernte aus guter und schlechter Saat auch mischen, z. B. wenn man erkrankt, aber eine Möglichkeit zu wirksamer Behandlung findet. Letztlich kann man aber das Karma "anderer" nicht vom "eigenen" Karma trennen, denn die sogenannten "anderen" sind immer Teil des sogenannten "eigenen" Erlebens und gehören somit auch zur "eigenen" Ernte. Not, auch wenn sie mir in Gestalt eines anderen Menschen begegnet, ist nicht irgendwo "außerhalb", sondern, genauso wie "ich selbst", im Erleben. Aber viele wollen oder können das nicht so sehen, z. B. weil sie es als Solipsismus bzw. subjektiven Idealismus missverstehen. Letztlich folgt es aber aus "Anatta", denn Erleben ist nicht "für mich" oder "in mir", folglich auch nicht subjektiv, sondern es ist bereits die Wirklichkeit selbst und nicht etwa eine "interne Repräsentation" oder ein Abbild irgendeiner dahinterliegenden Realität.

  • Vinnana:


    "Unverdientes" Leiden ist mit der Lehre vom Karma ebenso unvereinbar wie "unverdientes" Glück. Ich habe "unverdient" bewusst in Anführungszeichen gesetzt, weil Karma nicht unbedingt immer mit unserem "Gerechtigkeitsempfinden" konform geht. Wir sehen nur einen Ausschnitt aus dem Ganzen, und fragen uns dann z. B., warum es schlechten Menschen gut und guten Menschen schlecht geht.


    Ojeoje, da muss ich aber jetzt wieder eine dumme Anfängerfrage anhängen ... gleich mal vorab - von mir aus können alle "schlechten" Menschen ihr ganzes Leben lang vor Freude und Glück tanzen, damit habe ich kein Problem.


    Aber wenn ich jetzt mal ein plakatives Beispiel bemühen darf und z.B. an die Opfer des NS-Regimes denke, die unvorstellbaren Grausamkeiten ausgesetzt waren und zu Millionen ermordet wurden - da fällt es mir wirklich EXTREM schwer, mir vorzustellen, dass diese Menschen dieses Leid "verdient" haben sollen. Und wenn man den Gedanken konsequent zu Ende denkt, würde es die Täter ja sogar teilweise ihrer Verantwortung entheben, weil die Opfer des Nationalsozialismus sozusagen "selbst schuld" an ihrem Schicksal waren, oder? Das bezieht sich natürlich nicht nur auf die Opfer des Nationalsozialismus, sondern auf alle Wesen, die Opfer von Gewalt, Unmenschlichkeit und Grausamkeit sind.


    OK., ich wäre wirklich überglücklich, wenn mir jetzt jemand antworten würde, dass mein Beitrag der totale Schwachsinn ist und dass ich das alles komplett falsch verstanden habe (ihr dürft auch gerne mit mir schimpfen).


    Liebe Grüße
    Think


  • da es kein selbst gibt wird etwas "wiedergeboren" das nicht ein anderes aber auch nicht das selbe ist. karma ist unpersönlich. es wirkt. wer du genau einmal warst, welches karma du mit dir trägst, das folgt zwar einer gesetzmäßgkeit, das unterliegt aber so vielen faktoren, das zumindest ein unerleuchteter geist das wahrscheinlich im einzelfall nicht in alle details auflösen kann, gleichwie ein schmetterlingsflügelschlag in deutschland einen sack reis in china zum umfallen bringen kann und gleichwie das wetter von so vielen faktoren beeinflußt wird, das selbst die stärksten comptercluster unserer zeit es nicht sicher vorhersagen können, obwohl das theoretisch möglich sein müsste...

  • Moin Think,


    Zitat

    "Unverdientes" Leiden ist mit der Lehre vom Karma ebenso unvereinbar wie "unverdientes" Glück. Ich habe "unverdient" bewusst in Anführungszeichen gesetzt, weil Karma nicht unbedingt immer mit unserem "Gerechtigkeitsempfinden" konform geht. Wir sehen nur einen Ausschnitt aus dem Ganzen, und fragen uns dann z. B., warum es schlechten Menschen gut und guten Menschen schlecht geht. Die Ernte des Wirkens geschieht aber oft erst mit zeitlicher Verzögerung. Im Dhammapada heißt es:


    Zitat

    Aber wenn ich jetzt mal ein plakatives Beispiel bemühen darf und z.B. an die Opfer des NS-Regimes denke, die unvorstellbaren Grausamkeiten ausgesetzt waren und zu Millionen ermordet wurden - da fällt es mir wirklich EXTREM schwer, mir vorzustellen, dass diese Menschen dieses Leid "verdient" haben sollen. Und wenn man den Gedanken konsequent zu Ende denkt, würde es die Täter ja sogar teilweise ihrer Verantwortung entheben, weil die Opfer des Nationalsozialismus sozusagen "selbst schuld" an ihrem Schicksal waren, oder? Das bezieht sich natürlich nicht nur auf die Opfer des Nationalsozialismus, sondern auf alle Wesen, die Opfer von Gewalt, Unmenschlichkeit und Grausamkeit sind.


    Vielleicht hilft dir dieser Link weiter:


    http://www.buddhateens.de/bt-karma.htm


    Alles Liebe,
    Ji'un Ken

  • Vinnana:

    Ich habe den Eindruck, dass das "Entstehen in Abhängigkeit" (besonders) im Mahayana eine Bedeutungsveränderung erfahren hat. Im Palikanon lehrt der Buddha das abhängige Entstehen im Zusammenhang mit dem Problem des Leidens und seiner Auflösung. Da geht es nicht darum, ob und wie "alles Leben" oder "alle Dinge" miteinander verflochten sind, sondern eben wie Leiden entsteht und vergeht, und zwar dort, wo es vorgefunden wird, nämlich im Erleben. Auch die Anatta Lehre bezieht sich nicht auf ein Selbst von oder in den Dingen "da draußen", sondern auf "uns selbst". Es geht um den (vermeintlichen) Erleber und Handelnden. Ein solcher ist nicht aufzufinden. Von allen Dingen gilt: "Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst." Und diese Aussage begründet der Buddha nicht etwa mit z. B. "Verflochtensein", sondern mit der Unbeständigkeit und damit Unzulänglichkeit (Leidhaftigkeit) aller Dinge bzw. alles Erlebens.


    Etwa so ähnlich steht es bei Wikipedia. Das dort geschriebene hat mich nächtelang grübeln lassen und während des Grübelns verschwomm die Grenze zischen Anatta und Nihilismus immer mehr...
    Bis ich die Stelle im Buch von Thich Nhat Hanh gelesen habe. Danach verfestigte sich die Grenze wieder und es hat Klick gemacht. Nur weiß ich nicht, ob dieses Klick richtig war ;) Deswegen die Frage.


    Meiner Meinung nach bedeutet die Unbeständigkeit aller Dinge nicht die Abwesendheit eines Selbst. Es bedeutet nur, dass es kein fixes Selbst gibt, keine "Seele".
    Ein "ich" könnte dennoch existieren. Der Geist ist auch vergänglich und befindet sich im ständigen Fluss, trotzdem existiert er. Warum also sollte der Geist nicht mein "ich" sein?
    Die Existenz eines "ichs" bedeutet für mich auch nicht, dass daraus unbedingt Selbstsucht etc. entsteht, sondern einfach nur die Gewissheit, dass "ich" überhaupt existiere, dass ich nicht nur eine Illusion bin.


    Die Kombination aus Unbeständigkeit aller Dinge und dem bedingten Entstehen erklärt für mich die Abwesendheit eines "aus-sich-heraus-existierendem-ichs". Und das klingt für mich logisch. Die Meinung in diese Welt geboren zu werden und deswegen aus sich selbst heraus zu existieren, abgeschottet von der restlichen Welt, ist meiner Meinung nach falsch und führt wirklich zur Selbstsucht.


    Ich zitiere einfach mal aus dem Buch und zwar die Stelle an der der Mönch Siddhartha, unter dem berühmten Baum saß und nur noch Stunden von der Erleuchtung entfernt war.

    Zitat

    Aus "Wie Siddhartha zum Buddha wurde", Thich Nhat Hanh, dtv, 2004:


    Kaptitel 17, Seite 111, Zeile 33ff:
    "Normalerweise denken wir, daß ein Blatt im Frühling geboren wird, doch Gautama sah, daß es schon seit langer, langer Zeit da war - in dem Sonnenlicht, den Wolken, dem Baum und in ihm selbst. Da er sah, daß das Blatt niemals geboren worden war, konnte er auch erkennen, daß auch er niemals geboren worden war. Das Blatt - wie er selbst - hatten sich nur manifestiert - es war niemals geboren worden noch würde es jemals sterben. Durch diese Einsicht lösten sich seine Vorstellungen von Geburt und Tod, Erscheinen und Vergehen auf, und das wahre Gesicht des Blattes - und sein eigenes wahres Gesucht - enthüllten sich. Und er erkannte, daß die Gegenwart jeder einzelnen Erscheinung das Dasein aller anderen Erscheinungen möglich machte. Ein Phänomen umfaßte alle, und alle waren in einem enthalten.
    Das Blatt und sein Körper waren eins. Keines von beiden besaß ein eigenständiges, unvergängliches Selbst. Beide konnten sie nicht unabhängig vom Rest des Universums existieren. Indem er die wechselseitige Abhängigkeit aller Dinge als ihre Natur erkannte, sah Siddhartha auch die Leerheit aller Erscheinungen als die Natur der Dinge - alles ist leer von einem eigentständigen, vereinzelten Selbst. Er verstand, daß der Schlüssel zur Befreiung in diesen beiden Prinzipien lag - der wechselseitigen Abhängigkeit und dem Nicht-Selbst aller Dinge.


    Meine Frage bezieht sich vor allem auf die Meinung der anderen Schulen zur Schilderung von Thich Nhat Hanh.
    Ok, es gibt wahrscheinlich keine Pauschalmeinung, denn ein "Glaube" existiert ja nicht wirklich im Buddhismus. Die meisten Theravadis werden den Pali-Kanon wohl hoffentlich auch nicht als ihre Bibel betrachten.


    Und letztendlich ist es eine Sache der Erfahrung. Um wirklich zu begreifen was der Buddha meinte müsste mensch wahrscheinlich selber Buddha werden.

    "If you can learn to make the mind still, it will be the greatest help to the world."
    (Ajahn Chah)

  • gruenkern:

    Meiner Meinung nach bedeutet die Unbeständigkeit aller Dinge nicht die Abwesendheit eines Selbst. Es bedeutet nur, dass es kein fixes Selbst gibt, keine "Seele".
    Ein "ich" könnte dennoch existieren. Der Geist ist auch vergänglich und befindet sich im ständigen Fluss, trotzdem existiert er. Warum also sollte der Geist nicht mein "ich" sein?


    Der Buddha lehrte, dass die fünf Khandhas ("Daseinsgruppen", "Zusammenhäufungen") Anatta sind und so zu betrachten: "Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst." Und zu diesen Khandhas gehört auch das sogenannte "Geistige". Natürlich existiert "Geistiges" (Gedanken, Gefühle usw.), aber es ist die Existenz des Geistigen und nicht "ich" oder "meine" Existenz. Und warum nicht?


    Zitat

    "Form [Gefühl ... Wahrnehmung ... Gestaltungen ... Bewusstsein ...], ihr Bhikkhus, ist Nicht-Selbst. Wenn nämlich, ihr Bhikkhus, Form Selbst wäre, würde Form nicht ins Leiden führen und man würde in Bezug auf Form erlangen: "Meine Form soll so sein, meine Form soll nicht so sein." Und weil aber Form in der Tat Nicht-Selbst ist, deshalb führt Form ins Leiden und es wird in Bezug auf Form nicht erlangt: "Meine Form soll so sein, meine Form soll nicht so sein." (aus: Khandha Samyutta 59)


    Über etwas, das mir tatsächlich gehören würde, könnte ich auch verfügen. Was aber unbeständig und vergänglich ist, also seiner Natur nach irgendwann anders wird als "ich" es haben will, zeigt dadurch, dass es "meiner" Verfügungsgewalt nicht untersteht, so dass der Anspruch, es gehöre "mir" oder "zu mir", auf Verblendung beruht und darum immer in Leiden enden muss. Das gilt auch für alles Geistige.


    gruenkern:

    Die Existenz eines "ichs" bedeutet für mich auch nicht, dass daraus unbedingt Selbstsucht etc. entsteht, sondern einfach nur die Gewissheit, dass "ich" überhaupt existiere, dass ich nicht nur eine Illusion bin.


    Alle Dinge, von denen Du behauptest, dass sie Dir gehören oder Du sind, sind zwar (vorübergehend) da, sind also als solche auch keine Illusion. Aber es sind eben einfach nur diese Dinge und nicht "Du" oder "Dein". Etwas als "ich" oder "mein" zu betrachten, das ist die "Illusion" im Sinne von, dass "man sich Illusionen über diese Dinge macht", sie also für etwas hält, was sie in Wirklichkeit nicht sind, nämlich "ich" oder "mein". Und weil sie das nicht sind, wird die Gewissheit zu sein, von der Du sprichst, schließlich untergraben, nämlich immer dann, wenn sich Unbeständigkeit zeigt, also die Dinge anders werden als "man" will. Die "Gewissheit", dieser Körper zu sein, wird mit jeder neuen Erkrankung in Frage gestellt, wenn der Körper also macht, was "er" will und nicht, was "ich" will. Das gilt umso mehr für das Alter und schließlich den Tod, wo sich das Täuschende dieser "Gewissheit" schließlich in vollem Umfang zeigt. Nichts ist gewiss, außer, dass nichts so bleibt wie es ist. Die Gewissheit "zu sein" ist eine Illusion insofern als sie auf Sand, d. h. auf Ungewissem gebaut ist und deshalb schließlich in Leiden endet.


    gruenkern:

    Die Kombination aus Unbeständigkeit aller Dinge und dem bedingten Entstehen erklärt für mich die Abwesendheit eines "aus-sich-heraus-existierendem-ichs".


    Die durchdringende Erkenntnis der Unbeständigkeit und bedingten Entstehung macht jeden "Ichheitsanspruch" zunichte, weil es nichts Gewisses, also nichts zum Festhalten mehr gibt.


    Zitat

    Aus "Wie Siddhartha zum Buddha wurde", Thich Nhat Hanh, dtv, 2004:


    Kaptitel 17, Seite 111, Zeile 33ff:
    "Normalerweise denken wir, daß ein Blatt im Frühling geboren wird, doch Gautama sah, daß es schon seit langer, langer Zeit da war - in dem Sonnenlicht, den Wolken, dem Baum und in ihm selbst. Da er sah, daß das Blatt niemals geboren worden war, konnte er auch erkennen, daß auch er niemals geboren worden war. Das Blatt - wie er selbst - hatten sich nur manifestiert - es war niemals geboren worden noch würde es jemals sterben. Durch diese Einsicht lösten sich seine Vorstellungen von Geburt und Tod, Erscheinen und Vergehen auf, und das wahre Gesicht des Blattes - und sein eigenes wahres Gesucht - enthüllten sich. Und er erkannte, daß die Gegenwart jeder einzelnen Erscheinung das Dasein aller anderen Erscheinungen möglich machte. Ein Phänomen umfaßte alle, und alle waren in einem enthalten.
    Das Blatt und sein Körper waren eins. Keines von beiden besaß ein eigenständiges, unvergängliches Selbst. Beide konnten sie nicht unabhängig vom Rest des Universums existieren. Indem er die wechselseitige Abhängigkeit aller Dinge als ihre Natur erkannte, sah Siddhartha auch die Leerheit aller Erscheinungen als die Natur der Dinge - alles ist leer von einem eigentständigen, vereinzelten Selbst. Er verstand, daß der Schlüssel zur Befreiung in diesen beiden Prinzipien lag - der wechselseitigen Abhängigkeit und dem Nicht-Selbst aller Dinge.


    Der Gegenstand der Lehre des Buddha ist das Leiden und seine Überwindung, und die bedingte Entstehung wird vom Buddha nur im Zusammenhang damit gelehrt, nämlich wodurch bedingt Leiden entsteht und wodruch es vergeht. Thich Nhat Hanh spricht hier davon, dass Dinge kein Selbst haben, weil sie (wie er sagt), "nicht unabhängig vom Rest des Universums existieren". Er stellt offenbar gar nicht in Frage, dass "ich bin", sondern nur, dass dieses "Ich" eigenständig bzw. vereinzelt ist. Wohingegen der Buddha lehrte, dass jede Ich-Vorstellung eine falsche (weil Leiden schaffende) ist, denn alles, wozu man "ich bin" sagen kann, ist unbeständig, wird also irgendwann anders und endet darum in Leiden, weil Festhalten nicht mehr möglich ist.

  • Erstmal, vielen lieben Dank für die ausführliche Antwort!


    Vinnana:


    Der Buddha lehrte, dass die fünf Khandhas ("Daseinsgruppen", "Zusammenhäufungen") Anatta sind und so zu betrachten: "Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst." Und zu diesen Khandhas gehört auch das sogenannte "Geistige". Natürlich existiert "Geistiges" (Gedanken, Gefühle usw.), aber es ist die Existenz des Geistigen und nicht "ich" oder "meine" Existenz.


    Also es würde bedeuten, dass dieser Text gerade von meinem Geist geschrieben wird, der meine Gedanken und Finger steuert. Allerdings nicht von mir.
    Aber, wenn der Geist anatta ist würde dies nicht bedeuten, dass dieses "Gefühl-von-ich" die Gedanken nicht kontrollieren könnte? Wenn alle Khandas anatta sind, dann existiert dieser Mensch, hier vor dem Monitor, grob gesagt aus Geist und körper... total unkontrolliert. Zwar teilweise unter der Kontrolle des Geistes, allerdings eben so wie der Geist es will.
    Allerdings, wenn der Geist teilweise Kontrolle über diesen Körper hat, gehört dann nicht (zumindest ein Teil) des Körpers dem Geist?


    Zitat

    Über etwas, das mir tatsächlich gehören würde, könnte ich auch verfügen. Was aber unbeständig und vergänglich ist, also seiner Natur nach irgendwann anders wird als "ich" es haben will, zeigt dadurch, dass es "meiner" Verfügungsgewalt nicht untersteht, so dass der Anspruch, es gehöre "mir" oder "zu mir", auf Verblendung beruht und darum immer in Leiden enden muss. Das gilt auch für alles Geistige.


    Das ist für mich wieder schwierig zu verstehen. Dass der Körper nicht "ich" ist, ist mir klar. Allerdings kann "ich" einigermaßen komplex denken und "meinen" Geist formen. Wenn ich Dich (bzw. Deinen Geist?) jetzt richtig verstehe, ist das Gefühl von "ich" ein Trugschluss des Geistes. Das was ich als "ich" wahrnehme ist mein Geist und trotzdem ist er nicht "ich" bzw. "mein" Geist.


    Doch was sind meine komplexen Gedanken? Woher entstammen die? Gehören diese Gedanken meinem Geist? Kann der Geist dann anatta sein? Was ist mit meiner Persönlichkeit, die ebenfalls vergänglich ist? Woher kommt dieses Gefühl von der Kontrolle der Gedanken?


    "Ich denke, also bin ich" stimmt also nicht? Müsste es richtig heißen "Mein Geist denkt, also bin ich nicht"?


    Tut mir leid, dass das jetzt ein wenig unstrukturiert runtergeschrieben wurde... mein Geist... ;)

    "If you can learn to make the mind still, it will be the greatest help to the world."
    (Ajahn Chah)

  • Sehr schön geschrieben von vinnana. :)
    Vertiefend dazu ein Kapitel aus "Die Lehre des Buddha und ihre wesentliche Bedeutung" von R. G. de S. Wettimuny.Eine der besten Darlegungen der Kernlehren des Buddha ohne auf spätere Lehrauslegungen einzugehen.
    Zum Download hier:Klick


    FESTHALTEN AM GLAUBEN AN EIN SELBST (Attavadupudana) UND AN DER PERSÖNLICHKEITSANSICHT(Sakkayaditthi)


    Damit kommen wir zu dem Problem des „Selbst“. Es ist in der Tat das Hauptproblem. Es ist dazu auch noch ein schwierigeres Problem, als im Allgemeinen angenommen wird. Wenn man von der Lehre des Buddha spricht, spricht man im Grunde über Attavadupudana (Festhalten des Glaubens an ein „Selbst“) und asmimana (die Einbildung: „Ich bin“). Eine Lehre, die dazu gedacht ist, upadana von der Wurzel her zu beseitigen, muß sich notwendigerweise hauptsächlich mit dem grundlegendsten upadana, und das ist Attavadupudana , beschäftigen. Die Lehre des Buddha will das Leiden beenden. Dabei handelt es sich, wie wir später sehen werden, um das Beenden und Beseitigen des Glaubens an ein „Selbst“, sowie der Gedanken von „Ich und „Mein“, was wiederum mit dem Entwurzeln von upadana Hand in Hand geht. „Entwurzelt die falsche Ansicht eines „Selbst“. Mit der Beseitigung und Vernichtung dieser falschen Ansichten folgt alles andere nach.


    Die Eindruck von „Selbstheit“ ist grundsätzlich eine Vorstellung der „Meisterschaft“ über die Dinge, die Vorstellung von der Möglichkeit Macht über Dinge auszuüben. Was letztlich die Vorstellung von der Meisterschaft über Form, Gefühl, Wahrnehmung, Bestimmungen und Bewußtsein ist. „Ich bin Meister über diesen Körpers, er ist mein“. Oder: „Ich bin Meister meiner Absichten, sie sind mein“. Etwas zu besitzen oder es sich anzueignen, heißt es zu meistern, beziehungsweise Macht darüber ausüben zu können. Mehr noch, der Gedanke „Ich bin“ ist nur angenehm und erfreulich, wenn ich fühle oder denke, daß ich dauerhaft Meister meiner Form, meiner Gefühle, meiner Wahrnehmung, meiner Bestimmungen und meines Bewußtseins bin, und die Macht habe, sie so zu gestalten, wie ich es gerne hätte. Dieses Gefühl ist das Gefühl von „Selbstheit“, und mit diesem Gefühl wiege ich mich in einem falschen Eindruck von Sicherheit.


    Obwohl der puthujjana (Weltling) in Zeiten rechter Achtsamkeit, der Sicht der Vergänglichkeit zuneigen mag, reagiert er den Dingen gegenüber so, als wären sie von Dauer. Seine Handlungen gründen auf dieser falschen Ansicht. Sich auf diese falsche Ansicht stützend beabsichtigt und handelt er. Was immer er auch an Meisterschaft besitzt, ist zeitlich sehr begrenzt und reines Stückwerk. Vergänglichkeit untergräbt die Meisterschaft. Und eine Meisterschaft, die von Vergänglichkeit untergraben wird, ist keine wirkliche Meisterschaft. Kurz gesagt, die eingebildete „Selbstheit“ ist überhaupt keine „Selbstheit“. Daher ist „Selbstheit“ eine Täuschung.
    Ich habe in Wahrheit keinerlei Macht über die fünf Gruppen des Ergreifens, die ich als meine eigenen betrachte. Ich kann zu meinem Bewußtsein nicht sagen: „Laß mein Bewußtsein so sein und nicht so“. Ich kann nicht zu meinem Körper, der unter einem Geschwür leidet, sagen: „Laß meinem Körper von diesem Geschwür befreit sein“, und ihn dadurch davon befreien. Ich wünsche mir sicherlich, daß aus dem Körper, den ich als meinen eigenen betrachte, dieses Ge- schwür verschwinden würde. Ich denke sogar, daß es nie hätte kommen sollen. Jedoch so viel ich es mir auch wünsche, daß das Geschwür verschwindet, es tut es nicht. Auch über die anderen Gruppen, die ich als „Mein“ betrachte, kann ich keine solche Macht ausüben. Ich kann nicht zu den Gefühlen, die ich als „Mein“ betrachte, sagen: „Laß meine Gefühle so sein und nicht so“, und damit meine Gefühle so ha56 ben, wie ich sie mir wünsche. Somit ist dieses Festhalten der „Selbstheit“ eine Täuschung, welche immer wieder zu Verrat und Enttäuschung führt. Verrat und Enttäuschung sind das unausweichliche Ergebnis vom Festhalten an einer Täuschung.


    Der puthujjana hat also attavadupudana . Anders ausgedrückt, der puthujjana haftet (upadana) an dem Glauben (vada) an ein „Selbst“(atta). Da er am Glauben an ein „Selbst“ festhält, sucht er etwas, womit er sich als sein „Selbst“ identifizieren kann. Wenn er den Glauben, daß da ein „Selbst“ ist, aufrechterhalten möchte, muß er gleichzeitig das eine oder andere als dieses sein „Selbst“ betrachten. Und wenn es da irgendetwas gibt, was er meint als sein „Selbst“ identifizieren zu können, muß es zwangsläufig zu den Fünf Gruppen des Ergreifens gehören. Es muß sich um eine oder mehrere dieser Gruppen handeln. Es ist unmöglich für ihn, sein „Selbst“ mit irgendetwas anderem zu identifizieren. Deshalb betrachtet er eine oder mehrere dieser Gruppen als „Selbst“. So zu einer falschen Anschauung gekommen, erweitert er diese noch weiter, indem er einen Unterschied zwischen sich selbst und dem Rest folgendermaßen formuliert: „Das „Selbst“, die Welt“ (atta ca loko ca). Und er denkt weiter über sich selbst (über die fünf Gruppen des Ergreifens, welche er als sein „Selbst“ betrachtet) nach: „War ich in der Vergangenheit, war ich nicht in der Vergangenheit, wer war ich in der Vergangenheit, wie war ich in der Vergangenheit, in der Vergangenheit wer gewesen seiend, wer bin ich jetzt geworden, werde ich in der Zukunft sein, werde ich nicht in der Zukunft sein, wer werde ich in der Zukunft sein, wie werde ich in der Zukunft sein, in der Zukunft wer seiend, wer werde ich in der ferneren Zukunft sein?


    Das Festhalten am Glauben an ein „Selbst“ bedeutet im Wesentlichen das Festhalten am Glauben daran, daß es einen Meister gibt. Etwas als sein „Selbst“ zu identifizieren, bedeutet im Wesentlichen auch, etwas als das Ding zu identifizieren, über das man Meister sein kann.
    Die Gruppen als „Selbst“ zu identifizieren, bedeutet im Wesentlichen sie so zu betrachten, daß ich Meister über sie bin. Die Gruppen sind mein „Selbst“ bedeutet: Ich bin der Meister meiner Gruppen.


    Auch über seine gegenwärtige Existenz beginnt er zu zweifeln: Bin ich, bin ich nicht, wer bin ich, wie bin ich, von woher bin ich gekommen, wohin werde ich gehen? Weiter tauchen in ihm die eine oder andere der folgenden Ansichten auf, als ob sie Wirklichkeit wären: „Es gibt ein „Selbst“ für mich“; „Es gibt kein „Selbst“ für mich“; „Durch das „Selbst“ erkenne ich das „Selbst““; „durch das „Selbst“ erkenne ich das „Nicht-Selbst““; „Durch das „Nicht-Selbst“ erkenne ich das „Selbst“; „Dieses mein „Selbst“, welches angenehme und unangenehme Gefühle fühlt, das die Wirkung guter und schlechter Taten erntet, ist dauerhaft unerschütterlich und ewig, nicht vergänglich, ist unvergänglich, ein ewiges Ding.“ So gelangt er zu falscher Ansicht, beziehungsweise hat falsche Ansicht (ditthigata). Alle diese Überlegungen über das Selbst gibt es nur, weil er am Glauben an ein „Selbst“ anhaftet, weil er Begehren und Leidenschaften diesem „Selbst“ gegenüber hat. Hätte er den Glauben an ein Selbst nicht, würden solche Überlegungen nicht auftreten.


    Die Gruppen des Ergreifens in irgendeiner Weise als ein Selbst zu betrachten, wird Persönlichkeitsglaube genannt (sakkayaditthi).

    Zitat

    „Aber wie, edle Dame, kommt es zu einem Persönlichkeitsglauben?“ „Da ist, Freund Visakha, der unbelehrte puthujjana ohne Sinn für das Heilige, der edlen Lehre unkundig, ungeübt in der edlen Lehre, der Lehre der Edlen unzugänglich und er betrachtet Form, Gefühl, Wahrnehmung, Bestimmungen und Bewußtsein als sein Selbst oder er betrachtet sein Selbst als Form, Gefühl, Wahrnehmung, Bestimmungen und Bewußtsein besitzend oder er betrachtet Form, Gefühl, Wahrnehmung, Bestimmungen und Bewußtsein als in seinem Selbst oder er betrachtet sein Selbst als in Form, Gefühl, Wahrnehmung, Bestimmungen und Bewußtsein.
    So, Freund Visakha, sagt man, kommt es zu einem Persönlichkeitsglauben.“ (Majjhima Nikaya 44)


    Aber warum spricht man von „Persönlichkeitsglaube“ (sakkayaditthi)? Sakkaya heißt „Person“, ein „Jemand“, ein aus sich selbst heraus existierendes Lebewesen. Der puthujjana sieht sich selbst als sakkaya, eine „Person“, einen „Jemand“, eine Kollektion der fünf Gruppen des Ergreifens, über die er Meister ist. Genau genommen halten sich die fünf Gruppen des Ergreifens selbst für ein sakk¤ya. Ein anderes Wort dafür ist satta (Wesen). Der puthujjana sieht sich selbst als satta. Satta oder sakkaya bezieht sich auf ein empfindendes Wesen, welches sich in irgendeiner Art und Weise als ein „Selbst“ betrachtet. Besser gesagt, es bezieht sich auf die fünf Gruppen des Ergreifens als einem „Selbst“. Das ist die Vorstellung des puthujjana von einem empfindenden Wesen. Das ist sein Eindruck von sich selbst. Deshalb werden die fünf Gruppen des Ergreifens sakkaya genannt. Eine solche Vorstellung zu besitzen bedeutet am Persönlichkeitsglauben festzuhalten. Noch einmal, die fünf Gruppen des Ergreifens sehen sich selbst so lange als „Selbst“ an ,wie attavadupadana, das Festhalten an dem Glauben an ein „Selbst“ vorhanden ist. Sakkaya beinhaltet sakkaya-ditthi, das heißt, die Vorstellung „Person“ beinhaltet den „Persönlichkeitsglauben“. Es sollte allerdings darauf hingewiesen werden, daß sakkayaditthi nicht einfach darin besteht, mich selbst passiv und quasi objektiv als sakkaya zu betrachten. Vielmehr handelt es sich um einen dynamischen, intensiven und tief verwurzelten Vorgang, der sehr schwer loszuwerden ist.


    Sakkayaditthi sollte nicht einfach nur als die Ansicht definiert werden, daß es in den fünf Gruppen des Anhaftens ein „Selbst“ gibt, oder als Glaube an ein „Selbst“ oder eine „Seele“. Eine oder mehrere der fünf Gruppen des Ergreifens in irgendeiner Weise als „Selbst“ zu betrachten ist etwas anderes, als einfach nur zu glauben, daß irgendwo in ihnen ein „Selbst“ zu finden sei. Jemand, der irrtümlicherweise sakkayaditthi nur so versteht, daß in den fünf Gruppen des Ergreifens ein „Selbst“ zu finden ist, kann damit sehr wirkungsvoll seinen eigenen Fortschritt verhindern, und sogar von sich denken, er sei ein ariya (edler Mensch), obwohl er keiner ist.
    Nach einer meisterhaften Analyse, vielleicht mit Hilfe der modernen Wissenschaft, findet er kein aus sich selbst heraus existierendes Ding in den fünf Gruppen des Ergreifens. So kommt er ganz aufrichtig zu dem Ergebnis, daß es kein „Selbst“ in ihnen gibt, und hält sich für frei von sakk¤yadi··hi. Deshalb hält er sich für einen sotapanna /Stromeingetretener), was er in Wirklichkeit nicht ist. Die fünf Gruppen des Ergreifens erkennen sich selbst fortwährend als „Selbst“. Es liegt in ihrer Natur. Und dieses scheinbare „Selbst“, oder das, was als „Selbst“ erscheint, wird für bare Münze genommen und als „Selbst“ identifiziert.


    Sakkayaditthi ist ein bestimmtes Ding (sankhata dhamma), da es aufgrund von attavadupadana als notwendiger Bedingung entstanden ist. Hier ist attavadupadana ein saakhara. Als sankhara ist es die notwendige Bedingung für sakkayaditthi. Ohne attavadupadana kann es kein sakkayaditthi geben. Da ja der puthujjana an diesem Selbstglauben festhält, betrachtet er die fünf Gruppen des Ergreifens (beziehungsweise eine oder mehrere davon) als dieses „Selbst“, an das er glaubt.


    Andererseits, wenn es kein Festhalten an dem Glauben an ein „Selbst“ gibt, kann es auch kein sakkayaditthi geben, da keine Identifikation mit irgendetwas als einem „Selbst“ auftreten wird. Der puthujjana erkennt das nicht. Er erkennt nicht, daß sein sakkayaditthi durch ein sankhara bedingt ist, und daß alle sankhara vergänglich sind. Wenn er hingegen erkennt, daß das sankhara, „Festhalten am Selbstglauben“(attavadupadana), vergänglich ist, wird dieses sankhara vergehen und er wird sich nicht länger verleiten lassen an irgendein „Selbst“ zu glauben. Wenn sich attavadupadana auflöst hat, löst sich auch seine Identifikation des Lebewesens als „Selbst“ auf. Damit gibt es kein sakkayadttthi mehr und auch keinen puthujjana. Er ist von der Ebene eines puthujjana (puthujjana bhumi) auf die Ebene eines Edlen (arya bhumi) gewechselt.


    Von den drei Vorstellungen: „Das ist mein“, „Das bin ich“, „Das ist mein Selbst“, ist die erstgenannte die Grundlegendste. In der Lehrrede „Die Wurzel aller Dinge“ erläutert der Buddha ausführlich viele der Dinge, die der puthujjana als „Mein“ betrachtet. In dieser Lehrrede werden die anderen beiden Vorstellungen überhaupt nicht genannt.


    Im Ananda Sutta (SN 22, 83) finden wir folgendes:

    Zitat

    „Durch Ergreifen von Form gibt es „Ich bin“, nicht durch Nichtergreifen, durch Ergreifen von Gefühl ... , durch Ergreifen von Wahrnehmung ... , durch Ergreifen von Bestimmungen ... , durch Ergreifen von Bewußtsein gibt es „Ich bin“, nicht durch Nichtergreifen.“


    Auch das weist darauf hin, daß „Mein“ (was im Wesentlichen das Gleiche ist, wie das im Sutta mit Ergreifen Bezeichnete) grundlegender ist als „Ich“. Damit „Ich“ gegenwärtig sein kann, muß „Mein“ gegenwärtig sein.


    Es ist von großem praktischen Nutzen zu erkennen, daß „Mein“ die grundlegendste der drei Vorstellungen „Mein“, „Ich“ und „Selbst“ ist. Das andauernde Denken des puthujjana ist geprägt davon, daß irgendetwas „seins“ ist. Es ist tatsächlich nichts grundlegender in seinem Erleben als das. Und er muß versuchen in seinen eigenen Erfahrungen diesen Umstand zu erkennen. Die Vorstellung „Ich“ und „Selbst“ haben nicht die gleiche Stellung wie die Vorstel- lung „Mein“. Wenn sich der puthujjana eines Gefühls bewußt ist, ist er sich dessen immer als „mein Gefühl“ bewußt. Es ist genau diese Betrachtung „Mein“, die den puthujjana weiter ins Leiden führt.


    Der puthujjana nimmt jedoch an, daß „Ich“ die Grundlage ist und nicht „Mein“. Da er existiert denkt er, die Dinge gehören ihm. Da „Ich“ existiere, sind die Dinge „Mein“. Der Buddha zeigt jedoch auf, daß die Grundlage „Mein“ ist. Dem ergreifenden Bewußtsein des puthujjana präsentieren sich die Dinge als „Mein“. Dieser Zustand weist auf ein Subjekt hin, demgegenüber sie präsent sind. Das heißt, sie deuten auf ein „Ich“ hin. Somit ist die korrekte Folgerung: Da die Dinge „Mein“ sind, existiere „Ich“. Nun beginnt sich der puthujjana zu wundern, was denn eigentlich dieses „Ich“ ist. Er fängt an über dieses „Ich“ nachzudenken. Und während er so nachdenkt, sieht er ein „Selbst“, das heißt, er sieht Meisterschaft über Dinge. Während er nachdenkt, erscheint ein „Selbst“ vor ihm, so wie vor einer Gazelle Wasser erscheint, wenn sie in den von der Sonne erhitzten Sand starrt. Da die Vorstellung „Mein“ die ganze Zeit gegenwärtig ist, erscheint auch dieses „Selbst“ als „mein Selbst“.


    Letztendlich versucht der puthujjana, während er den Glauben an ein „Selbst“ aufrechterhält, die ganze Zeit dieses „Selbst“ zu identifizieren. Er kann es aber mit nichts anderem identifizieren, als mit einer oder mehreren der fünf Gruppen des Ergreifens. So kommt er schließlich dazu, eine oder mehrere dieser Gruppen als „Selbst“, besser gesagt als „Mein Selbst“ zu betrachten. Er denkt: „Die Gruppen sind mein Selbst“, was grundsätzlich bedeutet: „Ich bin Meister über meine Gruppen“. So kommt er zu sakkayadtthi.


    Die Vorstellung eines „Selbst“ ist den Vorstellungen „Mein“ und „Ich“ nachgeordnet. Es ist wie eine grobe Schicht, die über der Einbildung „Ich bin“ liegt. Bevor man die Einbildung „ich bin“ (asmimana) aufgeben kann, muß man erst das Festhalten an dem Glauben an ein „Selbst“ aufgeben. Der edle Nachfolger (sotapanna), der voll und ganz erkennt wie sakkayaditthi entsteht, hat es aufgegeben. Besser gesagt, er betrachtet nichts mehr als ein „Selbst“. Aber bis er ein Arahat wird, bleibt in ihm die subtile Einbildung „Ich“. Nur der Arahat ist auch vollständig von „Ich“ und „Mein“ frei.



  • Hallo gruenkern,


    das ganze kann man kurz und zusammendfassend so betrachten:


    Das "Ich" kannst du mit einem Auto gleichsetzten. Das "Ich" besteht aus den fünf Khandas, so wie das Auto aus verschiedenen Teilen besteht (Reifen, Motor, Karosserie usw.). Je genauer du die Teile unter die Lupe nimmst, ergeben sich immer mehr Teile welche immer voneinander abhängig sind. Ursache und Wirkung. Es besteht nichts aus sich selbst heraus, deswegen aus Sicht der "absoluten Wahrheit" nicht Existent, also "Nicht-Selbst" oder auf die Person bezogen "Nicht-Ich".


    Lieben Gruß

    Durch Daseinslust gefesselt ist die Welt. Ihr Treibwerk das ist der Gedanke.
    Wenn man Begehren läßt, kann vom Nibbāna man dann sprechen.

  • Hallo "gruenkern", der Buddha sagte:


    Zitat

    Wenn Form festgehalten wird, gibt es "(Ich) bin", nicht wenn nicht festgehalten wird. Wenn Gefühl ... Wahrnehmung ... Gestaltungen ... Bewusstsein festgehalten wird, gibt es "(Ich) bin", nicht wenn nicht festgehalten wird. (aus: Khandha Samyutta 83)


    Wenn Festhalten überwunden ist, dann bedeutet das nicht, dass man plötzlich sein Handeln nicht mehr im Griff hat oder "neben sich steht", sondern dass die Dinge (auch das Geistige) schlicht der Wirklichkeit gemäß gesehen werden, nämlich als unbeständig und deshalb in Leiden endend, sofern daran festgehalten wird. Dieses Festhalten ist nichts anderes als Vereinnahmung im Sinne von "Das gehört mir, das bin ich, das ist mein Selbst." Und das ist es, was aufhört und nicht etwa die Funktionsfähigkeit bzw. Handlungsfähigkeit von Körper und Geist.


    Der Beitrag von "nikaya" ist da noch ausführlicher, und ich kann das Buch, aus dem er da zitiert, empfehlen.

  • gruenkern:

    Meiner Meinung nach bedeutet die Unbeständigkeit aller
    Dinge nicht die Abwesendheit eines Selbst.


    Dann wäre deine Meinung nicht die des Buddha.


    gruenkern:


    Es bedeutet nur, dass es kein fixes Selbst gibt, keine "Seele".
    Ein "ich" könnte dennoch existieren.


    Zumindest könnte es etwas geben, von dem behauptet wird es sei
    ein Ich und es gehöre jemanden. Sicher wird es im BGB festgeschrieben
    sein was eine (juristische) Person ist und in wieweit diese über eine Sache
    Eigentum erlangen kann wenn sie mündig und volljährig ist. Und ich
    glaube auch nicht, das der Buddha diesen Tatbestand anzweifeln wollte.
    Deswegen gibt es ja auch die Tugendregeln.


    gruenkern:


    Der Geist ist auch vergänglich und befindet sich im ständigen Fluss, trotzdem existiert er.
    Warum also sollte der Geist nicht mein "ich" sein?


    Wenn es "ein Geist" gäbe der sich in einem ständigen
    Fluss befände und der dabei immer "dein" "ich" wäre,
    dann hättest du recht, denn dann wäre dieser Geist ewig.
    So aber ist "Geist" nur ein übergeordneter Begriff für eine
    Unsumme ständig neu entstehender Faktoren welche für
    ihr Weiterbestehen unumgänglich mit Nichtwissen über ihre
    Funktionen und deren Bedingtheit verbunden sein müssen um
    weiter, immer wieder neu entstehen zu können, um immer
    weiter Leiden, Alter und Tod entstehen zu lassen durch den
    Drang nach den jeweils geliebten und bevorzugten Dingen.


    Dazu "Ich" zu sagen bedeutet nichts anderes als den Vorgang
    zu bejahen und fortsetzen zu wollen. So ist es der (blinde) Wille
    der ihn "am Leben erhält" und der dazu "Ich" und "Mein" sagt und
    schlechthin behauptet - und zwar proportional zur Stärke eben
    dieses mit Unwissen verbundenen Willens. Ein wirkliches "ich"
    das die Bezeichnung "Ich" verdiente, ist genau so wenig zu finden
    wie ein tatsächliches und nicht nur behauptetes bzw. durch Festlegung
    bestimmtes Eigentum.


    mfg.
    accinca

  • gruenkern:


    Aber, wenn der Geist anatta ist würde dies nicht bedeuten,
    dass dieses "Gefühl-von-ich" die Gedanken nicht kontrollieren könnte?


    "Der Geist" ist schon jetzt anatta aber das (falsche) "Gefühl-von-einem-ich" beeinflußt
    den Prozeß der "Geist" genannt wird.
    Das ist wahr: Das "Gefühl-von-einem-ich" könnte ohne "Gefühl-von-einem-ich"
    die Gedanken nicht beeinflussen!


    gruenkern:


    Wenn alle Khandas anatta sind, dann existiert dieser Mensch, hier vor dem Monitor,
    grob gesagt aus Geist und körper... total unkontrolliert.


    Zumindest total unkontrolliert von einem wirklichen Ich und nicht
    nur dieser Mensch sondern alle Menschen und sogar alle Wesen.


    gruenkern:


    Zwar teilweise unter der Kontrolle des Geistes, allerdings eben so wie der Geist es will.


    Genau! allerdings gibt es keinen "Geist" der irgend etwas einfach so wollen könnte.
    Wenn aber entsprechende Bedingungen da sind, dann kommt es auch zur entsprechenden Wirkung.
    "Durch dieses bedingt ist jenes".


    gruenkern:


    Allerdings, wenn der Geist teilweise Kontrolle über diesen Körper hat,
    gehört dann nicht (zumindest ein Teil) des Körpers dem Geist?)


    Gehört die Wirkung einer Ursache?
    Wie gesagt kann der Geist nicht einfach so mal etwas wollen.
    Es gibt ja keine autonomes Selbst innerhalb des Geistes der kontrollieren könnte.
    Wo keiner ist, kann auch keinem was gehören und keiner kann kontrollieren.
    Das bedeutet aber nicht, das es keinen Zusammenhang zwischen Ursachen und Wirkungen gäbe.


    mfg.
    accinca

  • Vielen lieben Dank an Euch alle für Eure ausführlichen, lehrreichen Antworten!


    Als westlich erzogener, getauft und konfirmierter junger Mensch, der das Finden seines wahren "Ichs" und die Auslebung dieses "Ichs" als DAS Ziel im Leben ("to be yourself is all that you can do...") gesehen hat, ist es für mich immer noch schwierig die anatta-Lehre zu begreifen. Aber seit dem ich mich seit ein paar Wochen mit dem Buddhismus beschäftige, ändert sich meine Sicht auf die Welt nach-und-nach.


    Ich glaube, dass die anatta-Lehre eine der wichtigsten im Buddhismus ist, dass sie allerdings auch die Lehre ist, die am meisten falsch verstanden wird/wurde.
    Befrage 10 Buddhisten, aufgeteilt in unterschiedliche Schulen, und Du bekommst 10 verschiedene Antworten. Die/Der Erste sagt, es gibt kein fixes Selbst, allerdings ein Selbst im ständigen Wandel. Die/Der Zweite sagt es gibt keinerlei Selbst. Die/Der Dritte sagt, es gibt ganz einfach kein höheres Selbst. Die/Der nächste sagt, die 5 Skandhas ergeben das "Ich", usw.
    Manche Meinungen kleben dann an der Grenze zum Nihilismus oder überschreiten sie sogar.


    Hier einmal ein Text zum Thema der Seite Frauen und Buddhismus:

    Zitat

    "[...]Das Konzept von "Nicht-Selbst" bietet Raum für unzählige Spekulationen und Missverständnisse: Die Idee, das Selbst bekämpfen zu müssen. Das Selbst als Feind eines spirituellen Menschen. Oder wir verwechseln es mit dem Gefühl unserer Wertlosigkeit und Unbedeutsamkeit. Auch kann das falsch verstandene Konzept als Entschuldigung missbraucht werden, um sich aus der Verantwortung im Leben zurückzuziehen. Der Satz "Alles ist sowieso eine Illusion" wird immer mal wieder dazu verwendet. Dies verstärkt jedoch nur unsere Aversion und wir verpassen es, dieses "Nicht-Selbst" zu erkennen und die befreiende Wirkung dieser Erkenntnis zu erfahren. Die Zeichen eines wahren Verständnisses dieses "Nicht-Selbst" sind nicht innere Armut, Einsamkeit und Depression, sondern sind innerer Reichtum, Verbundenheit und Freude.


    Es gibt eine Geschichte, welche dieses falsch verstandene Konzept der Leerheit ganz anschaulich illustriert:
    Ein Schüler sprach zu seinem Guru: "Die wahre Natur der Dinge ist die Leere. In Wirklichkeit existiert absolut nichts. Es gibt weder dich noch mich, weder Weisheit noch dummheit." Der Guru betrachtete ihn lange, dann gab er ihm eine schallende Ohrfeige. Der Schüler erschrak und wurde dann furchtbar zornig. "Wenn nichts existiert," erkundigte sich der Guru, "woher kommt dann dieser Zorn?" - aus: "Da lacht der Erleuchtete", Eli Jaxon Bear, Sabrina Lorenz, Knaur Esoterik


    Der Begriff "Nicht-Selbst" meint nicht, dass es uns nicht gibt. Er meint lediglich, dass wir nicht so existieren, wie wir meinen, nämlich als unabhängige Wesen, in denen irgendwo etwas Solides, Unveränderliches gefunden werden kann, dass wir sind. Was wir "ich" nennen ist eine Sammlung aus sich ständig verändernden Prozessen: Der Prozess des physischen Körpers, seiner Form und Sinnesorgane, der Prozess der Gefühlsempfindungen, die mit jeder Erfahrung kommen. Der Prozess der Wahrnehmung und des Unterscheidungsvermögens, der Prozess der Reaktionen, Antworten, Emotionen, die auf die Gefühlsempfindungen reagieren sowie der Prozess des Bewusstseins, das wahrnimmt. Das Gefühl eines unabhängigen, unveränderlichen, getrennten Selbst entsteht immer dann, wenn wir einen Teil dieses dynamischen Prozesses vom Rest der Erfahrung isolieren und ihn festhalten.
    Wenn wir uns auf einen echten spirituellen Weg begeben, so brauchen wir ein grosses Mass an Selbstachtung und Selbstvertrauen. Wir brauchen ein gesundes Selbst, also innere Qualitäten wie eigenes Unterscheidungsvermögen sowie Liebe und Achtung für uns selber und für das Leben als Ganzes.[..]"


    Nochmal zurück zu Thich Nhat Hanh (siehe oben):
    Vinnana, wenn ich Dich richtig verstanden habe, ist die Begründung falsch und außerdem fehlt das Wesentliche: "Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst".
    Meiner Auffassung nach, ist das aber die Konsequenz aus dem von Thich Nhat Hanh Geschriebenen. Betrachtet mensch sich wirklich als ein Teil des Gesamten, schwindet der Glaube an ein "Ich". Und die Folge davon ist nicht-dualität. Berichtige mich bitte, falls ich falsch liege.



    accinca:

    Genau! allerdings gibt es keinen "Geist" der irgend etwas einfach so wollen könnte.
    Wenn aber entsprechende Bedingungen da sind, dann kommt es auch zur entsprechenden Wirkung.
    "Durch dieses bedingt ist jenes".


    So habe ich das noch gar nicht betrachtet :D
    Ich kannte Ursache und Wirkung und ich kannte die Aufteilung des Lebens in die einzelnen Gruppen. Aber daran gedacht, beides miteinander zu kombinieren, habe ich nicht... Wie gesagt, ich beschäftige mich erst seit kurzem mit dem Buddha und seiner Lehre.


    Aber dann stellen sich mir wieder ein paar Fragen:
    Gibt es einen freien Willen (an den glaube ich so oder so nicht wirklich)? Was unterscheidet Mensch von Tier von Pflanze? Einfach nur ein erweitertes Bewusstsein? Was ist Kreativität? Auch nur eine Wirkung aus einer Ursache?



    Und nochmals: Vielen lieben Dank für Eure Antworten (Vielen Dank nikaya. Ich bin jetzt fleißig am Lesen)

    "If you can learn to make the mind still, it will be the greatest help to the world."
    (Ajahn Chah)

  • gruenkern:

    Vielen lieben Dank an Euch alle für Eure ausführlichen, lehrreichen Antworten!
    Als westlich erzogener, getauft und konfirmierter junger Mensch, der das Finden seines wahren "Ichs" und die Auslebung dieses "Ichs" als DAS Ziel im Leben ("to be yourself is all that you can do...")


    Also das Eingangsstatement und das Eingeklammerte bekomme ich nicht zusammen.
    Unter "Auslebung des Ichs" wird doch im Westen gerade verstanden etwas anderes (Besseres) aus "sich" zu machen: noch mehr "Fun", noch mehr Materielles - also purer Hedonismus. Sich selbst zu akzepieren in seiner Begrenzt- und Bedingtheit, (to be yourself) ist doch höchst unpopulär.


    _()_

  • bel:

    Also das Eingangsstatement und das Eingeklammerte bekomme ich nicht zusammen.
    Unter "Auslebung des Ichs" wird doch im Westen gerade verstanden etwas anderes (Besseres) aus "sich" zu machen: noch mehr "Fun", noch mehr Materielles - also purer Hedonismus. Sich selbst zu akzepieren in seiner Begrenzt- und Bedingtheit, (to be yourself) ist doch höchst unpopulär.


    Wohl ein wenig falsch formuliert ;)
    So typisch westlich war die Erziehung wohl eher nicht. Außer die, die mir manche Lehrer vermitteln wollten... :D
    Ich habe geschrieben, dass das Finden des wahren "Ichs" und die Auslebung dessen das Ziel war. Das wahre "Ich" zu erkennen schaffen die Wenigsten, denke ich. Jedenfalls im Westen.
    Deswegen bin ich seit dem ich denken kann auf der Suche nach dem Sinn dieses Lebens und meines wahren "Ichs". Und deswegen bin ich nun auf den Buddhismus gekommen.


    Also, streich das mit dem "ausleben". ;)

    "If you can learn to make the mind still, it will be the greatest help to the world."
    (Ajahn Chah)


  • Na, dann bist ja hier richtig. Die Suche nach dem "wahren Ich" kann ja zweierlei beduteten: Die Suche nach einer Ich-Substanz oder die Frage "Was bin ich wirklich?" ("ich" hier nur pronominal).


    _()_

  • bel:

    Na, dann bist ja hier richtig. Die Suche nach dem "wahren Ich" kann ja zweierlei beduteten: Die Suche nach einer Ich-Substanz oder die Frage "Was bin ich wirklich?" ("ich" hier nur pronominal).


    _()_


    Definitiv letzteres.

    "If you can learn to make the mind still, it will be the greatest help to the world."
    (Ajahn Chah)

  • gruenkern:

    Vinnana, wenn ich Dich richtig verstanden habe, ist die Begründung falsch und außerdem fehlt das Wesentliche: "Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst".
    Meiner Auffassung nach, ist das aber die Konsequenz aus dem von Thich Nhat Hanh Geschriebenen. Betrachtet mensch sich wirklich als ein Teil des Gesamten, schwindet der Glaube an ein "Ich". Und die Folge davon ist nicht-dualität. Berichtige mich bitte, falls ich falsch liege.


    Sich als "Teil des Gesamten" zu betrachten ist immer noch eine Identifikation im Sinne von: "Das gehört mir, das bin ich, das ist mein Selbst.", nur dass jetzt "das Gesamte" als "Ich" herhalten muss. Es ist das Festhalten daran, Teil von etwas Größerem zu sein oder dieses Größere als das "eigentliche" oder "wahre Selbst" zu betrachten.

  • gruenkern:


    Aber dann stellen sich mir wieder ein paar Fragen:
    Gibt es einen freien Willen (an den glaube ich so oder so nicht wirklich)?


    Der Wille ist immer an Ursachen bzw. Motive gebunden.
    Der Buddha lehrte: "durch dieses bedingt ist jenes".
    Ein Wille ohne Ursache gibt es glücklicherweise nicht.
    Aus den Nichts oder dem Bedingungslosen, Unbedingten
    Ungewordenen (Nibbana) entsteht nichts.


    mfg.
    accinca

  • Vielen Dank an Mr_Aufziehvogel, Qi und nikaya für Eure Antworten bezüglich Karma! :) Langsam wird mir das ganze etwas klarer ...


    Darf ich nochmal kurz zusammenfassen? Wenn ich das richtig verstehe, bedeutet Karma im Grunde, dass jede Handlung viele Auswirkungen - sowohl auf die handelnde Person selbst als auch auf alle Wesen, die mit ihr verbunden sind - hat. Abgesehen von den direkten, sofort sichtbaren Auswirkungen, gibt es auch noch viele andere - wenn z.B. wie in Qi's Beispiel ein Mensch einen anderen schlägt, hat das logischerweise eine starke Wirkung auf den geschlagenen Menschen, aber auch auf den Schläger selbst (sowohl auf psychologischer als auch auf geistiger Ebene), und natürlich auch auf alle im Jetzt und in Zukunft lebenden Wesen, da das Weltgeschehen ja ein Zusammenspiel der Handlungen aller Wesen ist. Im Bezug auf die Reinkarnation bedeutet das, dass man also selbst an der Erschaffung der Welt beteiligt ist, in der man sich wieder manifestieren wird. Karma ist aber weder eine "Strafe", noch geht es dabei um eine Art "Auge um Auge"-Prinzip (man kassiert also keine Ohrfeige als "Strafe", weil man im letzten Leben eine Ohrfeige ausgeteilt hat, sondern eher, weil man eine Welt mitgestaltet hat, in der Ohrfeigen ausgeteilt werden) ... hmmm ... ist meine Zusammenfassung in etwa richtig?


    Vielen Dank und liebe Grüße
    Think

  • Vinnana:

    Sich als "Teil des Gesamten" zu betrachten ist immer noch eine Identifikation im Sinne von: "Das gehört mir, das bin ich, das ist mein Selbst.", nur dass jetzt "das Gesamte" als "Ich" herhalten muss. Es ist das Festhalten daran, Teil von etwas Größerem zu sein oder dieses Größere als das "eigentliche" oder "wahre Selbst" zu betrachten.


    Führt "sich" überhaupt nicht als irgendetwas zu betrachten dann nicht leicht zu dem, was ich oben von der Seite "Frauen und Buddhismus" zitiert habe?

    Zitat

    Die Idee, das Selbst bekämpfen zu müssen. Das Selbst als Feind eines spirituellen Menschen. Oder wir verwechseln es mit dem Gefühl unserer Wertlosigkeit und Unbedeutsamkeit.


    Aber vielleicht habe ich auch das nur ein wenig falsch formuliert, sprich: "Nicht dich selbst, sondern deine 5 Skandhas als Teil des Gesamten sehen". Oder liege ich immer noch total daneben? :D


    EDIT:
    Und wäre es schlimm, wenn ich mich dazu entschließen sollte buddhistischer Laie zu werden (der noch keine Ahnung von spiritueller/buddhist. Praxis hat) die anatta-Lehre noch nicht zu verstehen?
    Ich glaube um sie zu verstehen, müsste ich mich wohl in der Praxis üben.


    Und vielleicht wollte Thich Nhat Hanh auch einfach nicht abschrecken (-> "puhhhhh... das ist mir zu abstrakt, also das mit dem Buddhismus lass ich mal lieber bleiben."), sondern wollte einen leichteren (aus der Sicht eines Fortgeschrittenen: falschen) Einstieg geben. Denn ich habe immer noch Probleme damit, wenn ich das von Dir (Vinnana) Geschriebene lese, mit meinen Gedanken nicht in den Nihilismus abzudriften.


    Deswegen: sich selbst als Teil eines Gesamten zu sehen, ist wahrscheinlich schon ein Großer Schritt für eine(n) Durschnitts-WestlerIn.
    Mit Thays Worten (aus: "Wie Siddhartha zum Buddha wurde"):

    Zitat

    "Er erkannte, daß er nur ganz tief in ein Staubteilchen hineinschauen mußte, um darin das wahre Gesicht des gesamten Universums zu sehen. Er verstand, daß das Staubteilchen selbst das Universum war und daß das Universum nicht existieren konnte, wenn dieses Staubteilchen nicht existierte. Der Mönch Gautama ging über die Vorstellung vin einem eingenständigen Selbst oder atman hinaus. Er erkannte mit einemmal, daß ihn lange Zeit eine falsche Sichtweise von Atman berherrscht hatte, nämlich die, die in den Veden dargelegt war.


    oder

    Zitat

    "Das Blatt und sein Körper waren eins. Keines von beiden besaß ein eigentständiges, unvergängliches Selbst."


    oder

    Zitat

    "Daher, so dachte er, bedeutet das Leben annehmen auch Unbeständigkeit und Leerheit von Selbst annehmen. Der Ursprung des Leidens ist der falsche Glaube an Beständigkeit und an die Existenz eines eigenständigen, abgetrennten Selbst. Dies zu sehen, bedeutet zu verstehen, daß es werder Geburt noch Tod gibt, weder Entstehen noch Vergehen, weder eins noch viele, weder innen noch außen, weder groß noch klein, weder unrein noch rein. All dies Vorstellungnen sind falsche Unterscheidungen, durch den Intellekt geschaffen. Taucht man in die Leerheit aller Dinge ein, wird man alle geistigen Schranken transzendieren und befreit sein vom Kreislauf des Leidens"


    Eigentlich schon ziemlich abstrakt.


    -> Das Buch trägt übrigens auch den Untertitel "Eine Einführung in den Buddhismus". ;)

    "If you can learn to make the mind still, it will be the greatest help to the world."
    (Ajahn Chah)