Weisheit ohne Methode

  • 1. Das Bedenken der Vorzüge von Weisheit und der Nachteile ihres Fehlens


    »Ein Bodhisattva, dem die Weisheit fehlt, kann die Verwirklichung der Allwissenheit nicht erreichen, selbst wenn er die anderen befreienden Qualitäten von Freigebigkeit bis hin zu meditativer Stabilität besitzt.
    Weshalb?
    Weil seine Qualitäten einer Gruppe Blinder ohne Blindenführer vergleichbar wären: unfähig die Stadt zu erreichen, zu der sie wollen.Besitzen wir hingegen Weisheit, werden alle verdienstvollen Handlungen wie Freigebigkeit usw. auf den Weg der Buddhaschaft geführt und wir erreichen die Allwissenheit – so wie eine Gruppe Blinder, die von einem Blindenführer in die Stadt geführt wird.


    Es ist sehr wichtig zu verstehen, was mit Paramita gemeint ist. Ein Paramita ist eine Qualität, die uns zum anderen Ufer führt, die uns hilft, den Fluss oder den Ozean von Samsara zu durchqueren, um ans Ufer der Befreiung zu gelangen. Dort angekommen, können wir weiter fortschreiten bis zum Buddhazustand.
    Ohne Weisheit sind all die anderen Paramitas zusammen keine Paramitas, keine befreienden Qualitäten, sondern z.B. nur gewöhnliche Freigebigkeit, gewöhnliche Disziplin. Erst dann, wenn das Verständnis der Abwesenheit eines Selbst, das die Großzügigkeit oder Disziplin, Geduld usw. praktiziert, diese Handlungen Paramitas begleitet, werden diese heilsamen Handlungen zu Paramitas. Solange wir noch im Ich-Anhaften handeln, sind das einfach nur positive Handlungen aber noch keine Paramitas. Wenn es heißt blind, dann bedeutet das ohne Weisheit. Blinde Freigebigkeit ist eine Freigebigkeit, die das Ziel dieser Freigebigkeit nicht kennt. Die Praxis von Freigebigkeit führen wir aus, um aus dem Leiden herauszufinden, sie führt uns zur Befreiung.
    Blinde Freigebigkeit kennt den Weg nicht.
    Wir könnten jetzt denken, dass Weisheit alleine reichen würde. Dazu im Text:


    Wir mögen uns nun fragen: „Wenn dem so ist, genügt dann Weisheit alleine nicht? Wozu braucht es Freigebigkeit und die anderen Methoden überhaupt?“
    Nun, Weisheit allein genügt keineswegs, wie die Lampe des Erleuchtungsweges (Atisha) ausführt: „Es wurde gelehrt, dass wir durch Weisheit ohne Methode ebenso wie durch Methode ohne Weisheit gefesselt sind. Vernachlässige also keine von beiden.“Woran ist man gefesselt, wenn man nur Methode oder nur Weisheit praktiziert? Bodhisattvas, die nur Weisheit praktizieren, ohne Methoden anzuwenden, werden in das einseitige Nirwana fallen, in den Frieden, an den die Hörer glauben – und sie werden darin wie gefesselt sein. Das nirgends verweilende Nirwana werden sie nicht erlangen.


    In diesem Text finden wir Fachausdrücke, die wir vielleicht noch nicht kennen.Der Begriff Methode bezieht sich auf die anderen fünf Paramitas. Wir nennen sie Methoden oder auch geschickte Mittel, weil diese Qualitäten Ausdruck des Mitgefühls sind. Sie stellen die Verbindung zu den anderen dar. Durch Freigebigkeit, Disziplin, freudige Anstrengung oder Geduld entsteht eine Verbindung mit den anderen Wesen. Das sind die geschickten Mittel, mit deren Hilfe alle Wesen Erleuchtung erlangen können. Wenn man Weisheit ohne Methode praktiziert – wenn man nur über Leerheit, die illusorische Natur meditiert – dann gibt es dieses Engagement, den anderen zu helfen, nicht.Wenn man also in dieser Weise praktiziert, gelangt man in das einseitige Nirwana – der nächste Fachausdruck.
    Einseitiges Nirwana bedeutet, man hat Befreiung von Leid erlangt, aber es bleibt noch so etwas wie ein leichtes Zögern – man kann es nicht Angst nennen, weil es keine Emotionen mehr gibt – aber man zögert, hat Vorbehalte, sich in Samsara zu engagieren, weil man fürchtet, der verwirklichte Geist könnte verunreinigt werden. Es mangelt also an Verständnis darüber, was Samsara ist. Man fürchtet, durch den Kontakt mit Samsara dieses Nirwana zu verlieren. – Samsara bedeutet immer dualistische Welt.
    Wenn im Gegenteil jemand sowohl die geschickten Mittel als auch die Weisheit vollkommen integriert hat, wird er in das nirgends verweilende Nirwana gelangen. Dieser Fachausdruck beschreibt das Nirwana eines Buddhas. Ein Buddha hat nicht das geringste Zögern, sich in der Welt zu manifestieren, weil er verstanden hat, dass Samsara – die dualistische Funktionsweise der Wesen – seinen reinen Geist nicht mehr verunreinigen, verschleiern kann. Durch dieses Verständnis kann ein Buddha mitten unter den Wesen sein, ohne die geringste Angst, von deren dualistischem Anhaften berührt zu werden. Das wird das nirgends verweilende
    Nirwana genannt, weil ein Buddha überall sein kann: in den reinen Bereichen; in den unreinen Bereichen; im Samadhi, den man Dharmakaya nennt, völlig jenseits von allem; in der konkreten Aktivität in der Welt. Er kann in jeder Situation auch dem Leiden gegenübertreten, ohne dass sich sein Geist verschleiern würde.
    Diese Unterweisung wird von den Praktizierenden des Mahayana/Vajrayana häufig falsch verstanden. Sie glauben, dass der Weg zum nirgends verweilenden Nirwana darin bestehen würde, sich gut in Samsara zu installieren, weil sie keine Lust haben, aus Samsara herauszukommen. Sie sagen sich, dass es ja keinen Unterschied zwischen Samsara und Nirwana gibt. Das ist eine ewige Falle, eine Falle, aus der man nie herauskommen wird, solange man diese Vorstellung hat, solange man den essentiellen Punkt nicht verstanden hat.
    Man muss alles tun, um aus Samsara herauszugelangen, alles! um zu realisieren, dass am Ende durch die Verwirklichung Samsara nicht zu fürchten ist, dass es nur eine Projektion des Geistes ist, der die Welt einteilt in rein und unrein. Aber solange wir in dualistischer Weise funktionieren, sind wir ständig involviert, aber nicht im Nirwana.Im Folgenden wird die andere Möglichkeit beschrieben:


    Wer hingegen nur die Methoden praktiziert, ohne sich in Weisheit zu üben, wird nie über die Stufe gewöhnlicher, unverständiger Leute hinaus gelangen und deshalb stets an den Daseinskreislauf gefesselt bleiben.


    Nehmen wir ein Beispiel: Wer in eine Stadt gehen möchte, braucht Augen, die den Weg begutachten und Beine, die den Weg zurücklegen. In gleicher Weise benötigen wir, um in die Stadt der nirgends verweilenden Befreiung von Leid (Nirwana) zu gelangen, die eine Einheit bildende Kombination von Augen der Weisheit und Beinen der Methode.Aber Weisheit entsteht nicht einfach von selbst. Eine kleine Menge Holz zum Beispiel
    wird zwar brennen, aber nie ein großes, lang anhaltendes Feuer ergeben, wohingegen aus einem Berg bestens getrockneten Holzes, einmal entzündet, ein großes, lang anhaltendes, nicht zu löschendes Feuer entsteht.Genauso entsteht aus einer dürftigen Ansammlung von Verdiensten keine große Weisheit, wohingegen eine große Ansammlung von Verdiensten positiver Kraft durch die Praxis von Freigebigkeit, Disziplin und dergleichen große Weisheit hervorbringt, die alle Schleier verbrennt.Deshalb ist es der Weisheit wegen erforderlich, Freigebigkeit und die anderen befreienden Qualitäten zu kultivieren.


    Wie gehören Weisheit und geschickte Mittel (Methoden) zusammen? Sie sind wirklich miteinander verbunden. Und was nennen wir Verdienst? Das sind Handlungen – z.B. wenn wir die verschiedenen Qualitäten wie Freigebigkeit, Geduld, Disziplin usw. praktizieren – die wir mit einer altruistischen Haltung ausführen, ohne egoistisches Anhaften, mit einer Motivation, die nur auf das Wohl der anderen ausgerichtet ist, ohne den Wunsch, etwas zurückbekommen. Solche Handlungen nennen wir verdienstvoll, sie schaffen eine positive Kraft. Und diese positive Kraft führt dazu, dass unser Ich-Anhaften, die Kraft des Egos immer weiter und weiter reduziert wird. Das ist es, was man Verdienst nennt: diese Kraft, die das
    Ich-Anhaften reduziert.Und je mehr wir diese Kraft entwickeln, die unser Ich-Anhaften verringert, desto mehr kann sich auch die Weisheit manifestieren. Und wenn das Feuer groß ist, wenn wir viel Holz – viel Verdienst – angesammelt haben und diese Kraft groß ist, dann kann das Feuer all die Tendenzen, alle Schleier, die den Geist bedecken und uns vereinnahmen, verbrennen. All diese Schleier, die verhindern, dass wir das sind, was wir potentiell wirklich sind: ein Buddha.Wir alle wollen das Feuer der Weisheit, aber damit das Feuer der Weisheit entstehen kann, brauchen wir Holz. Das bedeutet, wir müssen diese Kraft des Verdienstes entwickeln, damit dieses Feuer kräftig brennen kann. Nur ein kleiner Funke, ein bisschen Holz oder ein paar Strohhalme reichen nicht, um all unsere Schleier zu verbrennen.
    Was ist nun die Definition der Weisheit? Damit kommen wir zum zweiten Punkt:


    2. Die Essenz von Weisheit


    Weisheit: prajna auf Sanskrit und sherab auf Tibetisch.


    Die Essenz von Weisheit ist ein genau unterscheidendes, umfassendes Verständnis aller Phänomene.


    Das ist sehr tiefgründig: ein umfassendes Verständnis aller Phänomene schließt alle Phänomene ein ohne eine einzige Ausnahme. Das bedeutet, dass wir nicht bei so einem vagen, schwammigen Verständnis bleiben, sondern es ist ein sehr klar unterscheidendes Verständnis, das sämtliche Merkmale aller Dinge unterscheiden und erkennen kann.Allumfassendes Verständnis bedeutet nicht, dass ein Buddha einen Airbus oder ein Formel-1- Auto reparieren könnte, es ist nicht ein technisches Verständnis aller Dinge. Ein Buddha hat die Fähigkeit, durch seine Intuition schnell zu sehen, worin das Problem besteht, aber das heißt nicht, dass er das technische Know-how hat, um einen Airbus zu konstruieren. Das Verständnis, von dem hier die Rede ist, hat zwei Aspekte: Ein Buddha kennt die tiefe Natur der Dinge, d.h. die Dimension der Leerheit, die Abwesenheit eines Selbst, und er kennt auch die relative Natur der Dinge, die Art und Weise, wie sich die Dinge in der Welt manifestieren. Er weiß, wie die relative und die letztendliche Ebene zusammenspielen.«
    Lama Lhündrub Unterweisungen zu Zitaten von Gampopa


    Lebt lange & in Frieden


    _()_ Nomad