Geshe Tubten Ngawang

  • Die Kraft im Lernen und im Tun - das Leben eines großen tibetischen Meisters
    zusammengefasst von Christine Rackuff


    [...]


    Kindheit zwischen Yaks und Mani-Steinen
    Der Wunsch zu lernen, um zu wissen, jeden Tag ein bisschen mehr, steckte tief in ihm. Von Kindesbeinen an. Der Nomadenjunge Döndrup Tarchin, wie Geshe Thubten Ngawang mit weltlichem Namen hieß, erblickte das Licht dieser Welt im Spätsommer 1932, als seine Mutter den heiligen Berg Kailash im Westen Tibets umwanderte. Schon als Kleinkind saß er gern in der Nähe durchreisender Mönche, wenn sie ihre Gebete sprachen und heilige Texte rezitierten.


    Der kleine Döndrup wuchs in der Provinz Tö Nagtsang im Nordwesten Lhasas mit seinen beiden Schwestern und zwei älteren Brüdern auf. Die Eltern lebten seit seiner frühesten Jugend voneinander getrennt. So vermochte er sich später nie an familiäre Obhut und Geborgenheit zu erinnern. Die Mutter wohnte jedoch mit seiner Schwester Tashi Drölma in der Nähe, und so konnte er sie beide manchmal besuchen.


    Seit dem achten Lebensjahr hatte Döndrup, wie alle Nomadenkinder, arbeitsreiche Tage. Bei Sonnenaufgang ging es mit den Yaks, den Schafen und den Ziegen hinaus auf die baum- und strauchlosen Hochweiden. Bei Wind und Wetter wurden die Tiere beaufsichtigt, am Abend wieder zu den Zelten gebracht und angebunden.


    Seine Schwester Tashi Drölma erfüllte ihm seinen sehnlichsten Wunsch und unterrichtete ihn seit seinem siebten Lebensjahr in Lesen und Schreiben. Von ihr lernte er schnell das tibetische Alphabet. Döndrups Vater war kein besonders religiöser Mann, aber er hatte doch einige heilige Texte wie das Tara-Gebet und eine Schrift von Padmasambhava. Der kleine Döndrup nahm die Seiten häufig mit hinaus auf die Weiden, befestigte sie sorgsam mit Steinen und las laut die heiligen Worte. Einmal überhörte er sogar bei seinem andächtigen Studium, dass Wölfe sich näherten und ein Tier seiner Herde rissen.


    Wenn er an klaren Wintertagen mit seinem Vater in der nahe gelegenen Ortschaft Wolle verkaufte, um Nahrungsmittel wie Tsampa (geröstetes Gerstenmehl), Soda und anderes Lebenswichtiges einzukaufen, besuchten sie das Kloster Ganden Tschökhor, in dem der jüngere seiner beiden Brüder als Mönch lebte. Der kleine Nomadenjunge Döndrup war fasziniert vom Klosterleben und lauschte den Mönchen beim Debattieren. Zum ersten Mal entstand in ihm der starke Wunsch, Mönch zu sein. Es war im Jahr 1942, er war gerade zehn Jahre alt, als die Entscheidung für den Eintritt ins Kloster fiel.


    Der kleine Mönch
    "Es liegt in unserer Verantwortung, uns selbst aus dem Leiden zu befreien. Es gibt niemanden, der den Weg zur Befreiung für uns gehen oder uns an dieses Ziel bringen könnte. Wir müssen uns selbst bemühen und die rechten Mittel anwenden, die zur Aufhebung des Leidens führen."


    Geshe Thubten Ngawang, Kommentar zu Nagarjunas "Brief an einen Freund"


    Mit Döndrup war jetzt der zweite Sohn der tibetischen Nomadenfamilie in einem Kloster. Dies verdankte er einem einflussreichen Bekannten namens Tsewang Norbu, der ihn mit nach Lhasa nahm. Er gehörte einer angesehenen Handelsfamilie aus dem osttibetischen Tehor Kham an, bei der Thubtens Vater über viele Jahre in Diensten stand. Die wohlhabende Familie unterhielt enge Kontakte zur Klosteruniversität Sera, und das stellte die Weichen für sein künftiges Leben als Mönch, das im Kloster Sera seinen Anfang nahm.


    Ein erfahrener Zimmerlehrer wies den Jungen in den Ablauf des Alltags ein, lehrte ihn lesen und schreiben sowie die richtige Rezitation der Gebete und vieles mehr. Mit ihm ging er zum Abt des Klosters, der dem Neuling als Zeichen der Weihe den letzten noch verbliebenen Haarstrang abschnitt. Fortan hieß er Thubten Ngawang.


    Von Phurbuchok Jampa Rinpoche erhielt er die Noviz-Weihe. Die wichtigsten Gebetstexte wurden bald auswendig rezitiert, er nahm an den Versammlungen der Klostergemeinschaft teil und trug seine dunkelrote Mönchsrobe als äußeres Zeichen für seinen spirituellen Lebensweg. Wenn die seltene Gelegenheit es wollte, besuchte ihn sein Vater im Kloster, gelegentlich schrieb man sich noch Briefe. Als Thubten nach zwei Jahren von Sera in das Dargye-Kloster in Kham in Osttibet wechselte, lösten sich die Verbindungen zu seiner Familie weiter auf.


    Die Hingabe an den Lehrer
    "Der Lama ist kein viertes Zufluchtsobjekt neben Buddha, Dharma und Sangha, sondern er verkörpert die Drei Juwelen und ist in seiner Natur nicht getrennt von ihnen. Ohne den Lehrer hätten wir keinen lebendigen Zugang zum Dharma."


    Geshe ThubtenNgawang, "Glücklich leben, friedlich sterben.


    "Der gütige, mitfühlende Lehrer ist die Grundlage aller guten Eigenschaften. Sich ihm anzuvertrauen ist das Fundament des Pfades", so heißt es in einem Text von Dsche Tsongkapa. Dieser gütige Lehrer war für den jungen Novizen Geshe Jampa Khedrup. Er prägte seinen geistigen Weg für sein gesamtes Leben.


    Von ihm erhielt Thubten Ngawang viele Belehrungen und Anleitungen der Überlieferungslinien, die zu Buddha SHakyamuni und Meistern wie Atisha führten. Hier erreichte er eine wichtige Stufe für ein geistiges Leben: Sein Hauptlehrer verlieh ihm die volle Ordination zum Mönch, ebenso die Bodhisattva- und Tantra-Gelübde. Der inzwischen 20-jährige Mönch war mit Hilfe seines verehrten Lehrers auf dem Weg eines Menschen, der sein Leben der Ausübung der Religion widmete. Er erhielt Belehrungen über den Stufenweg zur Erleuchtung (Lamrim) und zum Eintritt in das Leben zur Erleuchtung. Besondere Bedeutung hatte das Auswendiglernen wichtiger Texte, wie der Kommentar zu Dignagas Kompendium der Gültigen Erkenntnis, Eintritt in den Mittleren Weg und Schmuck der Klaren Erkenntnis.


    In diesen Jahren des Studierens, Debattierens und Meditierens in Dargye erkannte Thubten Ngawang mehr und mehr den unerschöpflichen Nutzen der großen Schriften und welchen Verlust es bedeuten würde, sie nicht zum Objekt allertiefsten Verständnisses zu machen. Er entwickelte mit der Zeit eine stabile Entsagung, die ihn dazu befähigte, jeden Tag ohne Studium als Verlust zu empfinden.


    Er fasste den Entschluss, an die Klosteruniversität Sera zurückzukehren. Dort wollte er sein Studium mit dem Titel eines Geshe zum Abschluss bringen. Sein damaliger Lehrer Jampa Khedrup bestärkte ihn. So machte sich der inzwischen 23-Jährige im Sommer 1955 auf den weiten Weg nach Sera in Zentraltibet. Sein Lehrer in Dargye hatte ihm empfohlen, sich in Sera an Geshe Rabten zu wenden. So geschah es, und Thubten Ngawang wurde sein Schüler.


    Entsprechend den Regeln des Vinaya begannen die Tage schon vor der Morgendämmerung gegen vier Uhr: Morgengebete in der großen Versammlungshalle, eine halbe Stunde Niederwerfungen, etwas Tsampa essen, Tee trinken, Beginn des täglichen Studiums der Texte mit einstündiger Debatte, gemeinsames Rezitieren der Studientexte, Tara-Gebete und Herzsutra. Noch einmal Tee, je nach Sponsor vielleicht sogar Buttertee, dann wieder Debatte oder Belehrungen durch den Abt.


    So setzte sich der Tag fort, Mittagspause für eine kleine Tsampa-Mahlzeit oder kleine Einkäufe, Debatte bis zum Abend. Nach den Abendgebeten konnten die Debatten bis in die Nacht, manchmal bis in den Morgen, dauern. Debattiert wurde selbst im Winter unter freiem Himmel. Einmal im Jahr in einer einmonatigen Studienpause konnten die Mönche in Einsiedeleien der Umgebung weiter studieren, ihre Verwandten besuchen oder Klausuren durchführen. In diesen beiden Jahren in Sera erhielt Thubten Ngawang Belehrungen von großen Meistern wie Kyabje Trijang Rinpoche, Geshe Ugyen und Geshe Rabten. So studierte der junge Mönch bis zum Jahr 1959, als der Volksaufstand gegen die Chinesen losbrach, die seit zehn Jahren Schritt für Schritt die Macht in Tibet übernommen hatten.


    Flucht aus Tibet
    "Mir war klar geworden, dass ich meinen Verwandten und all den anderen Lebewesen nur dann wirklich von Nutzen sein könnte, wenn ich meinen Geist schulen und weiterentwickeln würde."


    Geshe Thubten Ngawang, "Ein Leben in Weisheit und Güte."


    Schon Jahre vor dem blutigen Volksaufstand 1959 wurden in den Klöstern mit wachsender Besorgnis die politischen Entwicklungen im Lande beobachtet. Man entwickelte vorsorglich Strategien des kulturellen und spirituellen Überlebens; indes dachten die meisten Mönche, es werde ausreichen, sich genügend Wasser- und Tsampavorräte anzulegen, um die akuten Notzeiten zu überstehen.


    Dann entschied sich S.H. der 14. Dalai Lama zur Flucht über den Himalaya nach Indien. Viele Tibeter, unter ihnen große buddhistische Meister, folgten ihm ins Exil. Auch Thubten Ngawang entschied sich zur Flucht. Sein Ziel war es, weiterhin ein religiöses Leben zu führen, den Dharma zu studieren und zu lehren. Mehr als einen Monat war er mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter auf gefährlichen Wegen über vereiste Pässe gezogen, die die Grenze zwischen dem "Schneeland" und dem indischen Subkontinent bildeten.


    Während ihrer Flucht waren die Mönche ständig in Gefahr, von chinesischen Soldaten entdeckt zu werden. Zu Fuß unterwegs, kamen sie nur langsam voran. Viele Tibeter verloren auf der Flucht ihr Leben. Die erbarmungslose Kälte, schneidender Sturm und Schneetreiben raubten ihnen letzte Kraftreserven.


    Eines Tages liefen die Flüchtenden einer chinesischen Patrouille fast in die Arme, was ihr sicheres Ende bedeutet hätte. Aber die Soldaten waren ebenso erschöpft und von der eisigen Kälte nahezu bewegungsunfähig unter der Last ihrer Gewehre. So entdeckten sie nicht die kleine Gruppe, die sich blitzschnell hinwarf. Diese halbe Stunde, in der sie bewegungslos liegen mussten, um unerkannt zu bleiben, wurde für die langsam erfrierenden Flüchtlinge zur längsten ihres Lebens. Aber sie kamen noch einmal davon.


    Der wachsenden Bedrohung durch die Chinesen konnte man in einigen Klöstern in Zentraltibet nicht Stand halten. Als Sera und Drepung von der chinesischen Armee mit Kanonen beschossen wurden, fanden viele Mönche den Tod; Häuser und Bibliotheken wurden zerstört. Aus jener Zeit der täglichen Lebensgefahr stammt ein Lehrgesang, den Thubten Ngawangs Abt im Kloster Dargye, Geshe Jampa Khedrup, auf Bitten seiner mehr und mehr an der Situation verzweifelnden Schüler für sie schrieb. In dem Text "Ein Strom von Tropfen des Kühlung spendenden Mondlichts" sagt er:


    "Jetzt zur Zeit des fünffachen Niederganges ist es wichtig, die widrigen Umstände in den Pfad umzuwandeln. Jetzt ist die Zeit gekommen, Schaden mit Hilfe zu vergelten. Jetzt haben wir Gelegenheit, uns bei allen falschen Anschuldigungen in Geduld zu üben. Was auch immer wir an Glück und Leid, an Reichtum oder Armut erleben mögen, es gleicht den vorteil- oder fehlerhaften Traumgebilden, die zwar erscheinen, jedoch ohne Essenz sind. Wenn wir ohne Anhaftung und entsprechend der Erkenntnis handeln, dass alles hier und jetzt frei ist von Eigenexistenz, werden wir den Pfad finden, der den Buddha erfreut."


    Diese Worte halfen Thubten Ngawang, die Flucht und die Anfangsschwierigkeiten in Indien zu ertragen. Zunächst lebten die Tibeter in einem riesigen Flüchtlingslager, in dem Mönche und Laien zusammen wohnten. Die indische Regierung hatte ihnen in Absprache mit S.H. Dalai Lama großzügig eine Aufenthaltsmöglichkeit in Buxa, Distrikt Bengalen, angeboten. Für die Tibeter barg der Aufenthalt in Indien viele Risiken. Das für sie ungewohnte heiße Klima, verschmutztes Wasser und giftige Pflanzen förderten Krankheiten wie Tuberkulose und andere Leiden.


    Im ehemaligen Gefängniskomplex in Buxa lebten die Mönche von 1959 bis1969 in Hausgemeinschaften von jeweils 60 Männern. Das Studium stand für alle an erster Stelle. Die indische Regierung stellte Lebensmittel bereit. Allzu oft hatten jedoch besonders geschäftstüchtige Händler verdorbene Ware angeliefert. Viele Flüchtlinge verkürzten durch chronische Vergiftungen ihr Leben.


    Thubten Ngawang studierte in Buxa die Madhyamaka-Philosophie, Vinaya (ethische Disziplin) und Abidharma (Höheres Wissen) unter der Anleitung von Geshe Rabten. Es kamen andere große Meister wie Kyabje Trijang Rinpoche und Kyabje Ling Rinpoche, die Einweihungen in Vajrayogini, Yamantaka, Cakrasamvara und andere Meditationsgottheiten gaben. Der große Tantra-Meister Kyabje Song Rinpoche hatte in Buxa seinen Wohnsitz. Als hauptsächlicher Halter fast aller Übertragungslinien der Gelugpa war er für die Mönche ein großer Segen. Ebenso Geshe Ugyen Rinpoche, der für ca. drei Jahre in Buxa lebte.


    Die Aufgabe der Zukunft hieß für die im Exil lebenden Mönche, den Dharma, die Lehren des Buddhismus, zu erhalten. S.H. Dalai Lama hatte in etlichen Flüchtlingsversammlungen eindringlich auf dieses Ziel hingewiesen und die Errichtung neuer Klostergemeinschaften in Indien vorgeschlagen.


    Neuanfang in Indien
    "Wenn man die Vorteile der Geduld erfahren möchte, spielt es keine Rolle, ob man sich zu einer Religion bekennt oder nicht. Sie ist zwar schwer zupraktizieren, aber von immenser Effektivität. Geduld besteht darin, nicht die geistige Kontrolle zu verlieren, auch wenn man Schaden erleiden muss."


    Geshe Thubten Ngawang, "Genügsamkeit und Nichtverletzen"


    Die Einsicht, die buddhistische Lehre zu bewahren, gewann mehr und mehr Dringlichkeit. Je länger das indische Exil währte und in Tibet die politische Härte der Chinesen gegenüber der Bevölkerung zunahm, desto weniger war an eine friedliche Heimkehr zu denken. Resignation und Depression beeinflussten zunehmend den Alltag der Flüchtlinge in Buxa, wo inzwischen 1300 Mönche studierten.


    Dem tibetischen Buddhismus mussten im indischen Exil neue Impulse für seinen Fortbestand gegeben werden. Der indische Bundesstaat Karnataka im Süden des Subkontinents war nach Gesprächen mit der Administration des Dalai Lama bereit zur Hilfe. In der Gegend von Mundgod und Bylakuppe begann man, große Dschungelgebiete zu roden. Hier, in der Heimat des indischen Tigers, entstanden Flüchtlingssiedlungen und Klöster. Dies geschah mit eindrucksvoller Hilfe der indischen Bevölkerung. Im Süden Indiens, zwischen Reisfeldern, Maisplantagen und Sumpfgebieten, wuchsen ihre neuen Klöster empor, von denen die "Drei Säulen" Ganden, Drepung und Sera wieder die größten wurden. Die Feldarbeit kam in Schwung, die Klöster ernährten sich wieder aus eigener Kraft, Gesundheit kehrte zurück.


    Thubten Ngawang nahm in der im Exil errichteten Klosteruniversität Sera sein Studium von Vinaya, Abhidharma und Erkenntnistheorie wieder auf. In den Jahren 1975 bis 1978 legte er in Sera die verschiedenen Geshe-Prüfungen ab. 1979 erhielt der jetzt 45jährige den Titel des Geshe Lharampa, des höchsten Ausbildungsgrades der Klosteruniversitäten.


    Der große Sprung nach Westen
    "Angesichts der Tatsache, dass wir alle - jeder für sich - sterben müssen, kam es mir manchmal so vor, als ob ich den Menschen nur raten könnte, einen warmen Mantel anzuziehen, da es am nächsten Tag kalt werden könnte. Eine wirklich existenzielle Hilfe, die über das jetzige Leben und den kommenden Tod hinausgeht, konnte ich, so schien es mir, nur sehr bedingt geben, weil die westlichen Menschen nicht an Karma glaubten."


    Geshe Thubten Ngawang, "Ein Leben in Weisheit und Güte"


    In Geshe Thubten Ngawangs persönlichem Lebensplan stand Lernen und Lehren des Dharma an oberster Stelle. Sich einzusetzen für jene, die auf der Suche sind nach Ethik und der dauerhaften Freiheit vom Leiden. Als Geshe Lharampa wollte er in das Studium des Geheimen Mantra am Tantra-Kolleg von Gyüme eintauchen. Ins Ausland zu gehen hatte für ihn keinerlei Reiz.


    Doch es kam anders. Wieder wurde einer seiner Hauptlehrer zur Schlüsselfigur für ihn. Geshe Rabten, seit 1978 Lehrer in Europa, wies seinem Schüler Thubten Ngawang den Weg ins unbekannte Deutschland. Peter Turner, Präsident des Tibetischen Zentrums in Hamburg-Blankenese, auch Jangchub Choeling ("Dharma-Hain der Erleuchtung") genannt, hatte ihn wiederholt im Namen seiner Mitglieder gebeten, einen qualifizierten Dharma-Lehrer zu schicken.


    Auf Geshe Rabtens Vorschlagsliste standen die Namen von drei tibetischen Lamas; einer von ihnen war Geshe Thubten Ngawang. Dieser wusste, wie viel Güte er von Geshe Rabten empfangen hatte. Dennoch hoffte er, die Wahl werde auf einen der beiden anderen fallen. Dann die Nachricht aus dem Büro des Dalai Lama: Geshe Thubten Ngawang war für Hamburg ausgewählt worden. Er nahm diese Herausforderung an. Als seine Geshe-Prüfungen beendet waren, traf das Visum für Deutschland ein.


    Mit kleinem Gepäck und großen Zielen traf Geshe Thubten Ngawang am 5. Mai 1979 in Hamburg ein. Mit seiner Lehrtätigkeit wollte er helfen, den Buddhismus nach tibetischer Tradition zu bewahren und auszubreiten sowie Wege finden, den vielen Tibet-Flüchtlingen materielle Hilfe zukommen zu lassen. Dafür und für seinen Hamburg-Aufenthalt hatte er drei Jahre eingeplant, als Dank an seinen Lehrer.


    Das Tibetische Zentrum Hamburg e.V. war am 26. April 1977 von Peter Turner und einer kleinen Gruppe buddhistisch Interessierter gegründet worden. S.H. Dalai Lama begrüßte in einem persönlichen Brief die Hamburger Aktivitäten und ermutigte, weitere Anstrengungen zu unternehmen, den Dharma zu bewahren. Im November 1977 wurde der Dalai Lama Schirmherr von Jangchub Choeling Hamburg.


    Geshe Thubten Ngawangs erster Hamburger Belehrungszyklus fand regelmäßig am Samstagabend mit Shantidevas Eintritt in das Leben zur Erleuchtung statt. Er wurde aus dem Tibetischen übersetzt. Durch seine Übersetzer erfuhr er mehr und mehr über westliche Lebenskultur, über Ängste und Sorgen der Menschen, Drogenprobleme, Stress und psychische Belastungen. Es erschütterte ihn, dass besonders junge Menschen manchmal nur den Suizid als Ausweg aus der Krise sehen. Dies machte ihm klar, dass der Glaube an Karma und Wiedergeburt im Westen nicht sehr anerkannt ist.


    Kreativer Austausch zwischen Meister und Schülern
    "Wenn ich Menschen sehe, die ernsthaft über längere Zeit studieren und praktizieren, dann gewinne ich die Überzeugung, dass es sich gelohnt hat, mein Leben so zu führen, und empfinde keinen Verlust."


    Geshe Thubten Ngawang, "Tibet und Buddhismus", Frühjahr 1999


    Die starke Motivation Geshe Thubtens war stets der Motor für das Engagement vieler anderer, die am Ausbau des Tibetischen Zentrums Hamburg mitwirkten. Darunter von Anfang an Peter Turner, der 1980 seine Leitungsfunktion an Helga Weber übergab. Während ihrer Amtszeit organisierten die ersten Ordinierten, Jampa Tsedreon (Carola Roloff) und Jampa Gyatso (Christof Spitz), den Ortswechsel vom ersten Domizil in Blankenese nach Hamburg-Bergedorf, wo das Zentrum eine Drei-Zimmer-Wohnung bezog. 1983 kam als dritter Mönch Jampa Tenzin (Oliver Petersen) hinzu, der schon 1980 von Geshe-la Belehrungen gehört hatte.


    1983 erfolgte der Umzug in ein eigenes Haus in Hamburg-Rahlstedt, das schrittweise ausgebaut wurde. Das ehemalige Schwimmbad wurde in einen Tempel umgestaltet, im Garten entstand ein Stupa. Anfangs hatte Geshe Thubten unterschiedliche Übersetzer. Da waren u.a. Stephen Batchelor und Brian Grabia. 1981 löste sie Christof Spitz ab, er konnte als erster Dharma-Texte direkt aus dem Tibetischen ins Deutsche übersetzen. In der Aufbauzeit übernahm die Nonne Jampa Tsedroen tatkräftig die Hauptverantwortung für die Organisation des Zentrums.


    Zu den Höhepunkten seit Ankunft Geshe Thubten Ngawangs in Deutschland zählte der Besuch des Dalai Lama im Jahr 1982. Auf Einladung der Universität Hamburg und des Tibetisch-Buddhistischen Zentrums blieb er drei Tage in der Hansestadt. Vor rund 2000 begeisterten Besuchern sprach S. H. darüber, wie sehr wir durch Liebe, Mitgefühl und die Zähmung unseres Geistes die Welt verändern können.


    Für die Überlieferung des tibetischen Buddhismus im Westen war das Besondere, dass Geshe Thubten Ngawang sich entschied, kontinuierlich in Hamburg zu leben und zu unterrichten und nicht, wie viele buddhistische Lehrer, umherzureisen. Dadurch entwickelte sich eine stabile religiöse Gemeinschaft aus Ordinierten und Laienschülern und die Möglichkeit, Studium und Praxis zu vertiefen. Nur wenige Dharma-Zentren in Deutschland sind durch die permanente Anwesenheit eines Meisters gesegnet.


    Die geistige Ausstrahlung eines spirituellen Meisters wie Geshe Thubten Ngawang zog im Laufe der Jahre viele Menschen an, die ihre spirituelle Heimat im Tibetischen Zentrum fanden und ihre Fähigkeiten ehrenamtlich zur Verfügung stellten. Ständige Weiterentwicklung setzte ein, die auch von der Gesellschaft in Kultur, Politik und Religion interessiert wahrgenommen wurde. Ein wichtiges Ereignis für Hamburg war 1984 die Gründung des Interreligiösen Dialogs, über den Vertreter unterschiedlicher Religionen bis heute zum regelmäßigen Austausch zusammenfinden. Geshe Thubten Ngawang gehörte zu den Vätern dieses Projektes. Über all die Jahre ließ er nicht nach, es zu fördern und auszubauen. Mehr und mehr beachteten die Medien das Tibetische Zentrum, Schulklassen meldeten sich zu Besichtigung und Vorträgen an. Geshe Thubten Ngawangs Wunsch war es, beständigen Kontakt zu verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu pflegen.


    Lebenswerk Tibetisches Zentrum Hamburg
    "Was immer du für das Zentrum tust, tust du für mich. Da gibt es keinen Unterschied."


    Geshe Thubten Ngawang im Dezember 2002 zu einer Schülerin


    Das Tibetische Zentrum wurde zum Lebenswerk Geshe Thubten Ngawangs. Mit großem Eifer trieb er sein Hauptziel voran, den tibetischen Buddhismus zu bewahren und in den Westen zu überliefern. Ein Meilenstein auf diesem Weg war 1988 die Einrichtung des "Systematischen Studiums des Buddhismus". In seiner ihm eigenen Kreativität stellte Geshe-la ein siebenjähriges Studienprogramm zusammen, das Tradition und Gegenwart verbindet. Es enthält die essenziellen Themen aus den fünf großen Schriftgebieten, wie sie an den tibetischen Klosteruniversitäten gelehrt und studiert werden.


    Westliche Studenten mit guter Motivation, das heißt frei von weltlichen Ambitionen, können es neben ihrem Beruf absolvieren. Geshe Rinpoche sah dieses Studium als Fundament für eine erfolgreiche Dharma-Praxis an, als unabdingbare Voraussetzung für die Qualität der Meditation und die stufenweise Entwicklung des Geistes. Inzwischen läuft der sechste Lehrgang des "Systematischen Studiums".


    Parallel zu seiner eigenen umfangreichen Lehrtätigkeit lud Geshe Thubten Ngawang andere tibetische Meister in das Zentrum ein. Darunter Geshe Rabten Rinpoche, Song Rinpoche und Kensur Geshe Ugyen Rinpoche, der seit 1985 regelmäßig nach Hamburg und später Semkye Ling kam. Der Segen ihrer Anwesenheit erhielt zusätzlichen Wert durch umfassende Belehrungen, tantrische Initiationen und Praxisanleitungen. Geshe-la stellte damit sicher, dass die wichtigsten Unterweisungen seiner Tradition aus Sutra und Tantra vollständig hierher überliefert wurden.


    1991 erfolgte der zweite Besuch S.H. Dalai Lama auf Einladung des Tibetischen Zentrums in Hamburg. Diesmal ließen sich ca. 5000 Menschen von seinen öffentlichen Vorträgen im Kongresszentrum inspirieren. Das tibetische Oberhaupt würdigte das Tibetische Zentrum mit seinem Besuch und segnete den Tempel. Durch das Wirken Geshe Rinpoches erhielt der Buddhismus nicht nur in Hamburg ein gutes Renommée.


    1996 erfüllte sich ein lange gehegter Wunsch Geshe Thubten Ngawangs. Das Tibetische Zentrum eröffnete, unterstützt von der Studienstiftung für Tibetischen Buddhismus, das Meditationshaus Semkye Ling in der Lüneburger Heide. Geshe-la leitete verschiedene Kurse selbst und trug so dazu bei, dass die Schüler ihr Wissen über Meditation, Vorbereitende Übungen, tantrische Klausuren und Rituale in persönlicher Erfahrung vertiefen konnten.


    Ein weiterer Höhepunkt für den Dharma im Westen war 1998 in Schneverdingen die siebentägige Veranstaltung "Buddhas Weg zum Glück" mit S.H. Dalai Lama. Es war das erste Mal, dass der Dalai Lama so lange in Deutschland weilte. Vor rund 11.000 Menschen unterrichtete er den Stufenweg zur Erleuchtung (Lamrim), der Geshe Rinpoche so sehr am Herzen lag. Über ein Jahr lang hatte Geshe Thubten Ngawang, unterstützt von vielen Schülern und ehrenamtlichen Helfern, das spirituelle und logistische Großereignis vorbereitet. Der Dalai Lama wohnte im Meditationshaus Semkye Ling und segnete es durch seine Anwesenheit. Seitdem sprach Geshe-la von Semkye Ling als einem "Pilgerort", an dem die Präsenz großer Meister spürbar ist.


    Nach diesem großen Ereignis ging Geshe Thubten Ngawang verstärkt zu seinen eigenen Vorbereitenden Übungen über. Sein nächstes ganz persönliches Lebensziel war seine lang ersehnte Drei-Jahres-Klausur, die er immer wieder den Erfordernissen des Zentrums untergeordnet und verschoben hatte. Auch während der Vorbereitenden Übungen nahm er sich die Zeit, wichtige Unterweisungen und Initiationen zu geben. Im Jahr 2000 begann er mit dem Unterricht zu Candrakirtis "Eintritt in den Mittleren Weg", einem der bedeutendsten Texte der Mahayana-Philosophie. Parallel dazu holte er 2001 mit Geshe Ngawang Sonam einen neuen tibetischen Lehrer in das Hamburger Zentrum, der ihn bei seinen vielfältigen Aufgaben unterstützte.


    Geshe Thubten Ngawangs besonderes Anliegen war es, das Tibetische Zentrum auch für die Zeit seiner Abwesenheit in Klausur bestmöglich spirituell geleitet und versorgt zu wissen. So lud er mit Geshe Pema Samten einen weiteren qualifizierten Lehrer ein, der am 3. Januar 2003 in Hamburg eintraf. Ihm blieb nicht viel Zeit an der Seite Geshe Thubten Ngawangs. Beide Geshes zusammen standen ihm noch eine Woche unterstützend am Krankenbett zur Seite. Am Vormittag des 11. Januar 2003 starb Geshe Thubten Ngawang bei klarem, ruhigem Geist.


    Die folgenden Worte klingen wie sein persönliches Credo:


    "Die Ausübung des Dharma, der buddhistischen Lehre bedeutet im Wesentlichen die Veränderung des Geistes zum Heilsamen. Der geistige Frieden ist das Ziel. Dieses Ziel lässt sich nur durch die Überwindung unserer eigentlichen Feinde, der Fehler des Geistes, erlangen."


    Geshe Thubten Ngawang, "Was Sie schon immer über Buddhismus wissen wollten".


    Diesem Ziel galt sein Lebenswerk. Gemeinsam mit seinen Schülerinnen und Schülern hat er Unermessliches für die Übertragung des Buddhismus in den Westen geleistet und vielen Menschen eine heilsame spirituelle Lebensperspektive eröffnet.


    http://www.tibet.de/tib/tibu/2003/tibu65/biografie.html

  • Zitat

    "Was immer du für das Zentrum tust, tust du für mich. Da gibt es keinen Unterschied."


    wohh... *schmunzel* Jesus hätte das nicht besser gesagt.


    Kann dann ziemlich zerreißend werden wenn man an "Genügsamkeit und Nichtverletzen" denkt und kommt sicher nicht nach "Die Einsicht, die buddhistische Lehre zu bewahren, gewann mehr und mehr Dringlichkeit.", Leute.


    Irgendwie glaube ich, dass wir das Thema schon hatten. *schmunzel*