Kyabje Ling Rinpoche - Das Leben eines großen Meisters

  • Kyabje Ling Rinpoche - Das Leben eines großen Meisters


    Kyabje Ling Rinpoche war einer der beiden Tutoren S.H. des Dalai Lama und einer der größten Meister Tibets. Der folgende Text stützt sich vornehmlich auf die Autobiographie Ling Rinpoches, die in englischer Übersetzung kurz vor seinem Tod im Tibet Journal veröffentlicht wurde. Rinpoche hatte sie 1973 im Oberen Dharamsala auf Bitten des Ehrw. Khetsun Sangpo, eines Nyingma- Gelehrten, verfasst. Ling Rinpoches Autobiographie gibt Zeugnis über die Ausbildung in der Gelug- Tradition Tibets vor dem Einmarsch chinesischer Truppen. Sie ist ein Dokument über das Leben und Wirken eines Tulku. Ling Rinpoche war einer der größten buddhistischen Meister des alten Tibet.


    Kyabje Ling Rinpoche (1903-1983) war Tutor, geistlicher Lehrer und engster Vertrauter Seiner Heiligkeit des XIV. Dalai Lama sowie 97. Ganden-Thronhalter, d.h. Oberhaupt der Gelug-Tradition des Tibetischen Buddhismus. Er unterwies Tausende Schülerinnen und Schüler in Tibet, Indien, Europa und Nord-Amerika in Sutra und Tantra. Seine Linie wird als menschliche Manifestation der Gottheit Vajrabhairava (Yamāntaka) hochgeachtet.


    In seiner Autobiographie gibt Kyabje Ling Rinpoche eine detaillierte Beschreibung seines Curriculums, angefangen bei seiner Grundausbildung im Schreiben, Lesen und in der Grammatik im Alter von 8 und 9 Jahren bis hin zum Auswendiglernen religiöser Texte als Grundlage für die Debatte. Ling Rinpoche durchlief die 12-jährige Geshe-Ausbildung in der Loseling-Fakultät der Drepung- Klosteruniversität und legte großen Wert auf zwei Elemente der buddhistischen Ausbildung: die Gelehrsamkeit in den Schriften sowie die Erkenntnis und korrekte Übung. Rinpoche nennt nicht nur die fünf Haupttexte, welche die Essenz des Geshe-Studiums ausmachen, sondern etwa 70 indische und tibetische Werke und ihre Autoren, mit denen er sich befasst hat. Dadurch rückt der Ursprung der Lehren und ihre Authentizität in den Mittelpunkt.


    Parallel zum Geshe-Studium hat Ling Rinpoche ab dem 12. Lebensjahr viele Unterweisungen über alle Aspekte von Sutra und Tantra von 30 großen Lamas erhalten, wie zum Beispiel Unterweisungen über den großen Lamrim-Text Extensive Graduated Path to Enlightenment von S.H. dem XIII. Dalai Lama und Initiationen in Yamāntaka ohne Gefährtin und Vajrayoginï von Je Phabong Khapa Dechen Nyingpo in der Garpa Ritro. Im Alter von 15 Jahren erhielt er weitere wichtige Initiationen, u.a. in Hayagrïva. Seine Ordinationen zum vollständigen Laienschüler und Noviz-Mönch hat er 1913 durch den XIII. Dalai Lama empfangen; ebenso seine Weihe zum vollordinierten Mönch im Alter von 20 Jahren.


    Seinen Geshe Lharampa-Abschluss machte er 1924 im Norbu Lingka während des Großen Gebetsfestes in Lhasa. Es war der zweitbeste Abschluss jenes Jahrgangs. Anschließend nahm er im Gyutoe-Kloster das Studium der vier Tantraklassen auf. Er lernte die tantrischen Rituale wie die Herstellung von Farbsand- und dreidimensionalen Ma¶<eth>alas aus Holz. Im Alter von 23 Jahren legte er seine tantrische Abschlussprüfung vor dem 13. Dalai Lama und allen Lharampa-Geshes ab, die ebenfalls eine tantrische Prüfung abgelegt hatten. Man verlieh ihm das Abschlusszertifikat über die Meisterschaft in den Fünf Großen Texten und den Tantras. Diesmal war sein Abschluss der beste.


    Im Alter von 24 Jahren wurde er zum Disziplinar des Oberen Tantra Kollegs ernannt. 1930, im Alter von 28 Jahren, machte er eine ausgedehnte Pilgerreise in Tibet, auf der er an verschiedenen Plätzen Unterweisungen gab. 1933-1935 war er maßgeblich an dem Stupabau und der Mumifizierung des verstorbenen 13. Dalai Lama im Potala beteiligt. 1936 wurde er durch den Regenten Gyaltsab Radreng Hothogtu zum Abt von Gyutoe ernannt. Ein Jahr später begegnete er zum ersten Mal dem 14. Dalai Lama. 1940 avancierte er anlässlich der Inthronisation S.H. des XIV. Dalai Lama zu dessen spirituellem Berater und ein Jahr später zu seinem Junior-Tutor.


    Der Dalai Lama übernahm am 17. Oktober 1950 vorzeitig im Alter von 15 Jahren die politische Macht in Tibet, nachdem Einheiten der Volksbefreiungsarmee tibetische Einheiten in Kham angegriffen hatten. In seiner Autobiographie „Das Buch der Freiheit“ schreibt der Dalai Lama: „Ling Rinpoche war ein sehr zurückhaltender und strenger Mann, und ich hatte anfangs richtige Angst vor ihm. Ich fürchtete mich sogar beim Anblick seines Dieners und war bald imstande, ihn schon von Weitem an seinem Schritt zu erkennen, wobei ich dann jedesmal Herzklopfen bekam. Als ich älter wurde, schwand die Angst, und es entstand zwischen uns eine sehr gute Beziehung. Er wurde mein engster Vertrauter und blieb es bis zu seinem Tode 1983.“


    Obwohl Kyabje Ling Rinpoche nach eigenen Angaben erst ab 1953 Senior Tutor des Dalai Lama war, fungierte er schon 1950/51 als solcher und auch als sein politischer Berater. Im Jahre 1954 war Ling Rinpoche bei der Bhikæu-Ordination des Dalai Lama vor dem Jo-wo, der Hauptstatue in der Lhasa Trulpay Tsuglagkhang (Kathedrale), Abt.


    1959 floh er zusammen mit dem Dalai Lama nach Indien. Er wohnte gemeinsam mit ihm in Mussoorie. Stellvertretend für den Dalai Lama eröffnete er eine Dialectic School in Ladakh und besuchte Flüchtlingssiedlungen in Dalhousie und Buxa (Assam) in Ost-Indien. Dann wurde er schwer krank und reiste zur Behandlung nach Calcutta, Darjeeling, in die Schweiz und nach Paris. Seine Heilung schrieb er im Wesentlichen der tibetischen Medizin zu.


    Dann kam der Umzug nach Dharamsala, wo die tibetische Exilregierung ab 1960 ihr Hauptquartier hatte. Der 96. Ganden Tripa verstarb in Tibet, und Kyabje Ling Rinpoche wurde 1965 im Alter von 63 Jahren zum 97. Ganden-Thronhalter und zum Abt von Gaden Phelgye Ling in Bodhgaya ernannt. 1968 lud Dr. Kuhn ihn und Kyabje Trijang Rinpoche in die Schweiz ein, um das Choekhor-Kloster in Rikon bei Zürich einzuweihen. Auch bereiste er Deutschland, England und Frankreich.


    1969 kehrte er zurück nach Indien und gab dort über anderthalb Monate für ca. 700 Schülerinnen und Schüler Unterweisungen über Tsongkapas Große Darlegung über die Stufen auf dem Pfad zur Erleuchtung (Lamrim chenmo) im Gaden Phelgye Ling Kloster in Bodhgaya. Auch 1970 erteilte er dort 600 Mönchen, Lamas, Geshes und Laien Initiationen und tantrische Unterweisungen. 1972-1973 besuchte er die drei Klosteruniversitäten und das Gyume Tantra Kloster in den tibetischen Siedlungen Südindiens und gab auf der Rückreise nach Dharamsala wieder Unterweisungen in Bodhgaya. 1980 reiste er nach Europa und Nordamerika. Im Sept. 1983 erlitt er in Dharamsala einen Schlaganfall und verstarb dort am 25.12.1983 im Alter von 80 Jahren. Es heißt, dass er 13 Tage lang, bis zum 7. Januar 1984 in Meditation verweilte.


    Der Dalai Lama schreibt dazu im Buch der Freiheit: „Ich hatte immer den größten Respekt vor meinem Tutor, Ling Rinpoche, auch wenn ich mich als Kind sehr vor ihm fürchtete. Mit der Zeit aber wurde er einer meiner besten Freunde und engsten Vertrauten. Als er vor nicht allzu langer Zeit starb, hatte ich das Gefühl, dass es mir sehr schwerfallen würde, ohne ihn zu leben. Er war für mich ein Fels geworden, an den ich mich lehnen konnte.


    Im Spätsommer 1983 befand ich mich gerade in der Schweiz, als mich die Nachricht erreichte, dass er einen Schlaganfall erlitten habe und gelähmt sei. Ich war sehr beunruhigt, auch wenn ich als Buddhist wusste, dass ich nichts ändern konnte. Ich kehrte so schnell wie möglich nach Dharamsala zurück, wo ich ihn noch lebend antraf; aber es ging ihm sehr schlecht. Sein Geist, den er sein Leben lang trainiert hatte, war jedoch so scharf wie eh und je. Sein Zustand blieb für mehrere Monate stabil, bevor er sich dann zusehends verschlechterte. Er fiel in ein Koma, aus dem er nicht mehr erwachte, und starb am 25. Dezember 1983. Als ob es noch irgendeines Beweises für die Tatsache, dass er ein außergewöhnlicher Mensch war, bedurft hätte, zersetzte sich sein lebloser Körper trotz des warmen Klimas erst 13 Tage nachdem er klinisch für tot erklärt worden war. Es war fast so, als bewohne er seinen Körper noch.


    Wenn ich über die Art seines Ablebens nachdenke, bin ich mir ziemlich sicher, dass Ling Rinpoche seine Krankheit mit Absicht so lange hinauszögerte, um mir Zeit zu geben, mich an seine Abwesenheit zu gewöhnen. Die Geschichte ist damit aber noch nicht zu Ende, sondern geht nach tibetischer Art glücklich weiter. Inzwischen hat man die Reinkarnation von Ling Rinpoche entdeckt, der ein sehr frecher und lebhafter Junge ist. Seine Entdeckung war eine von denen, bei der das Kind ein Mitglied des Suchtrupps klar erkennt. Obwohl er nämlich erst 18 Monate alt war, rief der kleine Junge die Person beim Namen, ging ihr entgegen und lächelte. Später erkannte er noch mehrere andere Bekannte seines Vorgängers.


    Als ich den Jungen das erste Mal sah, hatte ich keinen Zweifel über seine Identität. So wie er sich benahm, war es ganz offensichtlich, dass er mich kannte, obwohl er mir den größten Respekt entgegenbrachte. Bei jener ersten Begegnung gab ich dem kleinen Ling Rinpoche eine große Tafel Schokolade. Die ganze Zeit, die er bei mir war, hielt er sie regungslos mit ausgestrecktem Arm und gebeugtem Kopf in der Hand. Ich bezweifle, dass ein anderes Kleinkind etwas Süßes, ohne es anzurühren, in der Hand gehalten und zugleich noch so förmlich dagestanden hätte.


    Als ich den kleinen Jungen dann zu Hause empfing und er an meine Tür gebracht wurde, verhielt er sich genauso, wie sich sein Vorgänger verhalten hatte. Es war offensichtlich, dass er sich auskannte. Als er in mein Arbeitszimmer kam, erkannte er meinen Diener Lobsang Gawa wieder, der sich gerade von einem Beinbruch erholte. Zuerst überreichte ihm der Kleine feierlich einen Katag, dann nahm er eine seiner Krücken in die Hand, hielt sie wie einen Fahnenmast und lief damit lachend und kichernd im Zimmer herum.


    Beeindruckend ist auch die Geschichte, die sich in Bodhgaya zutrug, wo der Junge im Alter von zwei Jahren hingebracht wurde, als ich dort Unterweisungen gab. Ohne dass ihm jemand etwas gesagt hätte, fand er mein Schlafzimmer, nachdem er auf allen vieren die Treppe hinaufgeklettert war, und legte einen Katag auf mein Bett. Heute ist Ling Rinpoche bereits imstande, religiöse Texte zu rezitieren, und es wird sich herausstellen, ob er, wenn er einmal lesen kann, die Fähigkeit haben wird, wie manch anderer kleiner Tulku Texte mit unglaublicher Geschwindigkeit auswendig zu lernen, als setze er einfach dort an, wo er in seinem früheren Leben aufgehört hat. Ich habe schon eine Reihe kleiner Kinder kennengelernt, die mühelos viele Seiten Text aufsagen konnten.“


    Seine junge Inkarnation erklärt den Vorgang in einem Gespräch mit Egbert Asshauer wie folgt: „Nach seinem Tode blieb mein Vorgänger noch 15 Tage in seiner Todesmeditation, wir nennen das Thugdam Shugpa, das ist eine tantrische Praxis. Thugdam ist die Meditation, Shugpa heißt bleiben. Für Außenstehende ist man dann tot, aber es tritt keine Verwesung ein. Fortgeschrittene Meditationspraktiker können aufgrund des guten Karmas, das sie angesammelt haben, für ein bis zwei Wochen in diesem Zustand bleiben. Das ist immer ein Zeichen, dass sie über Ort und Zeit ihrer Wiedergeburt selbst bestimmen können, und ein gutes Omen, dass man ihre Reinkarnation auch finden wird.“


    Dass Ling Rinpoche als menschliche Manifestation der Gottheit Vajrabhairava angesehen wird, erwähnt er selbst nicht. Der Hinweis stammt aus einer Kurzbiographie, die das Büro des Dalai Lama publiziert hatte, wo es am Anfang heißt, dass der Meister eine Dreijahres-Klausur über Vajrabhairava durchführte und während dieser Zeit das umfassendste und maßgeblichste Handbuch für die Praxis und das Studium des Vajrabhairava verfasste. Kyabje Ling Rinpoche erwähnt weder, diesen Text verfasst zu haben, noch die Drei-Jahres-Klausur. Aber in einem anderen Zusammenhang hebt auch er die Praxis von Vajrabhairava hervor. In seiner Autobiographie sagt er nach der Indienreise 1956:


    „Nach meiner Rückkehr nach Lhasa baten mich die Kollegien Loseling und Dragyerpa Sangngag des Drepung- Klosters, zwei Wochen Unterweisungen in ihrem Kloster zu geben. Diese Unterweisungen basierten auf meinen persönlichen Meditationserfahrungen über Panchen Losang Yeshes Schnelles Transzendieren der Stufen auf dem Weg zur Erleuchtung (Lamrim Nyurlam). [...] Ich unterrichtete auch einen Text namens Große Erklärung über die Erzeugungsstufe des Yamāntaka Tantra. Zu dieser Zeit bat mich Driru Zhabdrung Rinpoche aus meiner persönlichen Erfahrung Unterweisungen über Yamāntaka ohne Gefährtin zu geben, was ich getan habe.“


    Auf diesem Hintergrund muss man wohl die Anmerkung bei Asshauer verstehen, der sagt, dass der Betreuer von Ling Rinpoche ihm erzählt hatte, dass „früher, wenn der Kleine zu frech wurde, er ihm gern einen Klaps auf sein Hinterteil gegeben hatte. Als er dies wieder einmal tat, erschrak er plötzlich: Vor seinen Augen hatte sich der kleine Tulku in Yamāntaka verwandelt.“


    Ziel des Lebens Ling Rinpoches war nach seinen eigenen Worten, „für die Bewahrung von Sutra und Tantra zu arbeiten, welche der Ursprung für alles Gute und das Glück der Lebewesen in den drei Daseinsbereichen sind“. Besonders die Zeit im indischen Exil hat er unermüdlich der Wiederherstellung der Lehren des Buddhas und Tsongkapas gewidmet. Ganz bescheiden sagte er, dass er sich zwischen all den Aktivitäten, die seine Aufgaben und Ämter mit sich brachten, bemüht habe, jeden Tag seine Rezitationen und andere Praktiken „aufzufrischen“ und es so geschafft habe, glücklich zu bleiben.


    Die Leistung, die Kyabje Ling Rinpoche in seinem Leben erbracht hat, lässt sich aus buddhistischer Sicht wohl nur mit seiner Schulung in früheren Inkarnationen erklären, aus denen er viele gute Eindrücke mitgebracht haben muss, die ihm den Weg für die Dharma-Praxis in diesem Leben geebnet haben. Im Westen würde man ihn als Genie bezeichnen.





    TIPPS ZUM LESEN


    Egbert Asshauer: Tulkus. Das Geheimnis der lebenden Buddhas. Freiburg 2000


    Daniel Bärlocher: Testimonies of Tibetan Tulkus. Opuscula Tibetana, Tibet-Institut Rikon 1982


    Dalai Lama: Das Buch der Freiheit. Die Autobiographie des Friedensnobelpreisträgers. Bergisch-Gladbach 1990


    Ling Rinpoche: The Autobiography of Kyabje Ling Rinpoche. Translated by Norbi Tsonawa, Tibet Journal 1983



    Erschienen in "Tibet und Buddhismus", Heft 67, 2003
    http://www.tibet.de/zeitschrift
    http://www.tibet.de/zeitschrif…ea4c159036226ff38aa241e09