Den Lehrer prüfen von Patrul Rinpoche

  • Gewöhnliche Menschen wie unsereins sind meist leicht beeinflussbar durch die Menschen ihrer Umgebung und durch äußere Umstände.
    Aus diesem Grund müssen wir uns auf einen Lehrer,
    einen spirituellen Freund verlassen.
    Wenn in den Sandelholzwäldern der Malaya Berge ein gewöhnlicher Baum umgefallen ist,
    wird sein Stamm im Laufe der Zeit vom süßen Geruch des Sandelholzes durchdrungen.
    Nach einigen Jahren duftet dieses gewöhnliche Holz dann ebenso gut wie Sandelholzbäume in seiner Umgebung.
    Genauso werdet ihr,
    wenn ihr in der Nähe eines vollendeten Lehrers voller guter Qualitäten lebt,
    vom Duft dieser Qualitäten durchdrungen,
    und euer Verhalten wird sich immer mehr dem seinen angleichen.


    »Ähnlich wie eine gewöhnlicher Baumstamm,
    Der in den Wäldern der Malaya Berge liegt,
    Den Duft des Sandelholzes aus den feuchten Blättern und Zweigen absorbiert,
    Werdet ihr demjenigen gleichen,
    dem ihr folgt.
    «


    Es ist schwer in diesen Zeiten des Niedergangs einen Lehrer zu finden,
    der jede einzelne der in den kostbaren Tantras beschriebenen Qualitäten besitzt.
    Folgende Qualitäten muss der Lehrer,
    dem wir folgen jedoch unbedingt haben.
    Er muss makellos sein,
    was das Einhalten der Verpflichtungen angeht,
    die mit den drei Arten von Gelübden verbunden sind -
    dem äußeren Prātimoksha-Gelübde,
    dem inneren Bodhisattva-Gelübde
    und dem Gelübde des geheimen Mantrayāna - und er darf ihnen nie zuwidergehandelt haben.
    Er muss gelehrt sein und alles Wissen über Tantras ,
    Sūtras, Shāstras haben.
    Sein Herz muss so von Mitgefühl für die unendliche Zahl der Wesen erfüllt sein,
    dass er jedes einzelne liebt wie eine Mutter ihr Kind.
    Er muss in den äußeren rituellen Praktiken des Tripitaka und in den inneren der vier Tantra-Klassen bewandert sein.
    Er muss den Sinn der Lehren integriert und dadurch alle außergewöhnlichen Qualitäten der Befreiung und Verwirklichung in sich aktualisiert haben.
    Er muss großzügig sein und seine Rede angenehm.
    Er sollte jedem einzelnen die dessen Bedürfnissen entsprechenden Lehren geben und sich mit seinem Verhalten nicht von dem unterscheiden,
    was er lehrt .
    Durch diese vier Arten,
    die Wesen anzuziehen,
    wird er einen Kreis von auserwählten Schülern um sich sammeln.


    »In diesen Zeiten des Niedergangs ist es schwer,
    Die dem reinsten Dharma entsprechenden Qualitäten alle zusammen vorzufinden.
    Doch traut dem Lehrer der,
    Gestützt auf das makellose Einhalten der drei Gelübde,
    Von Gelehrsamkeit und Mitgefühl erfüllt ist,
    Der bewandert ist in den Ritualen der zahllosen Pitakas und Tantras,
    Und der die Frucht erlangt hat,
    die unbefleckte Weisheit,
    Die mit der Befreiung und Verwirklichung einhergeht.
    Angezogen von der leuchtenden Blüte dieser vier attraktiven Qualitäten,
    Werden sich auserwählte Schüler wie Bienen um ihn sammeln,
    um ihm zu folgen.
    «


    Besonders für die Unterweisungen über die tiefgründige Essenz der Mantra-Vajrayāna-Kernunterweisungen sind wir auf einen Meister angewiesen,
    wie er von den kostbaren Tantras folgendermaßen beschrieben wird:
    Sein Geist ist gereift durch einen Strom von Initiationen ,
    der durch eine ungebrochene Überlieferungslinie auf ihn nieder-fließt.
    Er darf die Samayas und Gelübde,
    zu denen er sich bei Initiationen verpflichtet hat,
    nicht übertreten haben.
    Er sollte wenig verstörende Emotionen haben und ruhig und beherrscht sein.
    Er muss die Bedeutung der Tantras des Grundes,
    des Wegs und der Frucht des geheimen Mantrayāna-Vajrayāna gemeistert haben.
    Er sollte alle Zeichen der Meisterung der Annäherungs- und Vollendungsstufe der Praxis erlangt haben,
    wie zum Beispiel die Vision des Yidam.
    Er sollte die Natur der Wirklichkeit erfahren und Befreiung erlangt haben.
    Aus tiefem Mitgefühl sollte ihm allein das Wohl der anderen am Herzen liegen.


    Er sollte nicht mehr an den Dingen dieses Lebens hängen und deshalb nicht in Gedanken anderweitig beschäftigt sein.
    Sich auf künftige Leben konzentrierend sollte sein einziger Gedanke denm Dharma gelten.
    Er sollte die Leidhaftigkeit von Samsāra erkennen,
    darüber große Traurigkeit empfinden und auch andere dazu inspirieren.
    Er sollte geschickt für seine Schüler sorgen und die für jeden einzelnen geeigneten Methoden benutzen.
    Er sollte alle Wünsche seines eigenen Lehrers erfüllt haben und damit der Halter des Segens der Überlieferungslinie sein.


    »Der außerordentliche Lehrer,
    der die Kernunterweisungen gibt,
    Hat Ermächtigungen erhalten,
    die Samayas eingehalten und ist friedvoll.
    Er hat den Sinn der Tantras des Grundes,
    des Wegs und der Frucht gemeistert,
    Und er besitzt alle Zeichen für Annäherung und Vollendung.
    Er ist befreit durch Verwirklichung,
    hat unbegrenztes Mitgefühl und sorgt sich allein um andere.
    Er hat wenig weltliche Beschäftigungen und denkt nur an den Dharma.
    Dieser Welt überdrüssig, bringt er andere dazu,
    dasselbe zu fühlen.
    Er ist kundig in den Methoden und besitzt den Segen der Überlieferungslinie.
    Folgt einem Lehrer wie diesem,
    und die Zeichen der Meisterschaft stellen sich rasch ein.
    «


    Auf der anderen Seite gibt es eine Sorte Lehrer,
    die wir meiden sollten.
    Ihre Merkmale sind folgende:


    Der Lehrer der wie ein hölzerner Mühlstein ist :
    Diese Lehrer besitzen nicht die Spur von den Qualitäten,
    die sich aus Studium, Nachdenken und Konzentration ergeben.
    Sie meinen,
    sie selbst und ihre Nachkommen seien allen anderen überlegen,
    weil sie doch der erhabene Sohn oder Neffe diesen oder jenen Lamas sind,
    und sie verteidigen ihre Stellung wie Brahmanen ihre Kaste.
    Auch wenn sie ein bißchen studiert,
    nachgedacht und meditiert haben,
    so nicht etwa mit der lauteren Absicht,
    sich für zukünftige Leben zu bemühen,
    sondern aus weltlichen Gründen - um ihren religiösen Machtbereich mit seinen Pfründen nicht zu verlieren.
    In ihrer Eignung,
    den Geist von Schülern zu zähmen,
    kommen sie einem aus Holz geschnitzten Mühlstein gleich.


    Lehrer,
    die dem Frosch gleichen der in einem Brunnen lebte:


    Obwohl Lehrern dieser Art jegliche spezifische Qualität fehlt,
    die sie von gewöhnlichen Leuten unterscheidet ,
    werden sie von diesen blind gläubig und ohne jede Prüfung auf ein Podest gehoben.
    Aufgebläht aufgrund der Ehren und Zuwendungen die man ihnen erteilt,
    erkennen sie die echten Qualitäten großer Lehrer nicht und gleichen dem Frosch,
    der in einem Brunnen lebte :


    »Ein alter Frosch der Zeit seines Lebens in einem Brunnen verbracht hatte,
    erhielt eines Tages Besuch von einem anderen Frosch,
    der am Ufer des Meeres lebte.
    „Woher kommst Du ?“ fragte der Brunnenfrosch.
    „Vom großen Meer“, sagte sein Gast.
    „Wie groß ist Dein Meer ?“ wollte der Brunnenfrosch wissen.
    „Es ist riesig“.
    „Etwa ein viertel der Größe meines Brunnens ?“
    „Oh ! Viel größer !“ rief der Frosch der vom Meeresufer kam.
    „Halb so groß ?“
    „Nein, viel größer.“
    „Ausgeschlossen!“ sagte der Brunnenfrosch. „Das will ich mit eigenen Augen sehen.“ «


    Die beiden Frösche machten sich auf den Weg,
    und der Brunnenfrosch soll,
    als er das Meer sah,
    in Ohnmacht gefallen und sein Kopf zerplatzt sein.


    Wild gewordene Führer :
    Dies sind Lehrer die sehr wenig wissen und die sich nie darum bemüht haben,
    einem gelehrten Meister zu folgen und sich in den Sūtras und Tantras zu üben.
    Ihrer ausgeprägten negativen Emotionen und geringen geistigen Achtsamkeit wegen sind sie lasch im Einhalten der Samayas und Gelübde.
    Sie sind von niedrigerer Gesinnung als gewöhnliche Leute,
    äffen aber die Siddhas nach und spielen sich auf,
    als wäre ihr Verhalten höher als der Himmel


    [Anmerkung: Ihr Verhalten ist unkonventionell,
    ohne Rücksicht auf allegemeingültige Regeln,
    so als beruhte es auf wahrer nicht dualistischer Weisheit.
    Doch in Wirklichkeit machen sie sich nur selbst etwas vor.
    ]


    Sie sind jähzornig und eifersüchtig und unterbrechen damit die Lebensader der Liebe und des Mitgefühls.
    Alle,
    die sich von ihnen leiten lassen geraten auf Abwege.


    Blinde Führer.
    Lehrer,
    deren Qualitäten den unseren in keiner Weise überlegen sind und denen die Liebe und das Mitgefühl des Erleuchtungsgeistes fehlen,
    sind nicht imstande,
    uns die Augen für das zu öffnen,
    was getan und was nicht getan werden sollte.


    »Manche verteidigen ihre Kaste wie Brahmanen,
    Und tauchen aus Angst um ihre Pfründe
    In eine Imitation von Studium und Nachdenken ein.
    Solche Führer gleichen einem aus Holz geschnitzten Mühlstein. «


    »Manche,
    obwohl nicht anders als das gewöhnliche Volk,
    Werden getragen von der dümmlichen Verehrung der Leute.
    Stolzgeschwellt von all den Ehren, Opfergaben und Vorteilen,
    Gleichen Lehrer wie diese dem Frosch in seinem Brunnen.
    «


    »Manche haben wenig Wissen und vernachlässigen ihre Samayas und Gelübde,
    Von gemeiner Gesinnung,
    ist ihr Gebaren über die Erde erhaben;
    Sie haben die Lebensader des Mitgefühls und der Liebe durchtrennt -
    Mit wild gewordenen Führern wie diesen wird alles Übel
    noch vermehrt.
    «


    »Besonders jenen zu folgen,
    die nicht besser sind als ihr,
    Die kein Bodhicitta haben und nur an ihrem Ruhm interessiert sind,
    Wäre ein riesiger Fehler.
    Mit Betrügern wie diesen als euren blinden Führern,
    Wandert ihr tief in Finsternis hinein.
    «


    Der Erhabene Meister aus Oddiyāna warnt:


    »Den Lehrer nicht prüfen
    Heißt Gift trinke.
    Den Schüler nicht prüfen
    Heißt in einen Abgrund springen.
    «


    Ihr setzt euer Vertrauen ein für alle mal in euren Lehrer,
    für alle zukünftigen Leben.
    Er ist es,
    der euch zeigen wird,
    was zu tun und was zu lassen ist.
    Wenn ihr einem falschen spirituellem Freund vertraut,
    den ihr vorher nicht richtig geprüft habt,
    geht euch die Möglichkeit verloren,
    durch gläubiges Vertrauen ein Leben lang Verdienst anzusammeln,
    und die Freiheiten und Vorteile der menschlichen Existenzform,
    die ihr erlangt habt,
    sind verspielt.
    Es ist,
    als ob ihr euch einer unter einem Baum zusammen gerollten Giftschlange nähert:
    ihr habt sie für den kühlenden Schatten des Baumes gehalten,
    sie aber tötet euch.


    »Wenn sie einen Lehrer nicht sehr genau prüfen,
    Vergeuden die von verehrender Hingebung Erfüllten ihr ganzes Verdienst.
    Sie halten eine giftige Schlange für den Schatten eines Baumes
    Und verlieren -einem Irrtum erlegen- die Freiheiten,
    die sie endlich gefunden hatten.
    «


    Wenn ihr den Lehrer einer sorgfältigen Prüfung unterzogen und festgestellt habt,
    dass er alle erwähnten positiven Qualitäten besitzt,
    dürft ihr nie aufhören,
    ihn als Buddha selbst zu sehen.
    [Anmerkung: NT spezifiziert, dass folgendes nötig ist, um seinen spirituellen Lehrer als Buddha zu sehen.
    Man muss:
    1. ihn als Buddha in Person empfinden, sowohl im absoluten wie auch im relativen Sinn;
    2. alle seine Taten, ob spirituell oder weltlich, als die eines Buddha ansehen;
    3. seine Güte uns gegenüber als eine Güte aller Buddhas übertreffende sehen;
    4. ihn als die größte Zuflucht sehen;
    5. davon ausgehen, dass die Weisheit der Verwirklichung entwickelt wird, wenn man dies weiß und zu ihm betet, ohne auf irgendeine andere Hilfe auf dem Pfad zu vertrauen.
    ]


    Der Lehrer der alle diese Qualitäten in sich vereint,
    ist die Verkörperung der mitfühlenden Weisheit aller Buddhas der zehn Richtungen.
    Um den Wesen zu Hilfe zu kommen,
    hat er die Gestalt eines gewöhnlichen Menschen angenommen.


    »Der Lehrer mit den vollständigen Qualitäten
    Ist die Weisheit und das Mitgefühl aller Buddhas.
    In menschlicher Gestalt zum Wohl der Wesen erschienen,
    Ist er die einzigartige Quelle aller Siddhis.
    «


    Ein echter Lehrer passt sein Alltagsleben dem der gewöhnlichen Leute an,
    um denen,
    die seine Führung brauchen,
    geschickt zu helfen.
    In Wirklichkeit ist er aber mit niemandem zu vergleichen;
    sein Weisheitsgeist ist der eines Buddha.
    Alles,
    was er tut,
    ist nichts anderes als die Aktivität eines verwirklichten Wesens,
    abgestimmt auf die Veranlagung derer,
    denen er zu Hilfe kommen muss.
    Seine Erhabenheit ist deshalb einzigartig.
    Geschickt im Durchbrechen von Zögern und Zweifel,
    erträgt er geduldig wie eine Mutter jede Enttäuschung durch seine Schüler sowie ihre Undankbarkeit.


    »Aus praktischen Gründen,
    um uns zu führen,
    verhält er sich wie wir.
    Doch in Wahrheit unterscheidet er sich von allen.
    Seine Verwirklichung macht ihn zum Erhabensten unter uns.
    Geschickt im Durchbrechen unserer Zweifel,
    trägt er mit Geduld
    Jede Enttäuschung und den Mangel an Dankbarkeit.
    «


    »1. Mögen alle Wesen durch das Gute,
    das mir zuteil wird,
    wenn ich über den Eintritt in das Leben zur Erleuchtung sinne,
    mit einem Leben zur Erleuchtung geschmückt sein!
    2. Mögen alle,
    die gequält sind durch Pein an Körper und Geist in jeglicher Gegend der Welt,
    durch meine Verdienste Meere des Glücks und der Seligkeit erlangen!
    3. Möge,
    solange der Kreislauf währt,
    niemals das Glück ihnen schwinden!
    Möge die Welt immer dar das Glück von Bodhisattvas haben!
    «
    Shantideva


    añjalī अञ्जलि
    Dorje Sema