Alltagstauglichkeit des tibetischen Buddhismus

  • Hallo allerseits,
    ich beschäftige mich jetzt seit einiger Zeit mit dem Buddhismus, schwanke aber noch sehr stark zwischen dem tibetischen und dem Zen-Buddhismus. Ich habe auch bereits aus beiden Traditionen eine Gruppe besucht (allerdings noch nicht sehr oft). Ich stehe nun zwar etwas auf dem Schlauch und versuche erst einmal, mich in beide Traditionen weiter einzulesen, um zu sehen, was besser für mich geeignet ist.
    Ich habe nun im Zuge dessen angefangen, das Buch "Die Geheimlehre Tibets" von Guru Padmasambhava zu lesen, wobei sich mir ein Bild abgezeichnet hat, welches mich nun stark verunsichert. Und zwar die Frage, inwiefern ein "produktiv" praktizierter tibetischer Buddhismus sich überhaupt in den westlichen Alltag integrieren lässt. In besagtem Buch wird immer wieder betont, dass das Ziel eigentlich nur sein kann, innerhalb des jetzigen Lebens die Erleuchtung zu erlangen, da eine erneute Wiedergeburt als Mensch trotz aller Praxis sehr ungewiss ist. Das hat mich nun etwas irritiert, da ich es bisher so verstanden habe, dass man, wenn man erst einmal auf dem buddhistischen Weg ist und auch regelmäßig praktiziert, als karmisches Resultat eine Wiedergeburt erfährt, die eine Weiterführung der Praxis ermöglicht. In der "Geheimlehre Tibets" heißt es als Schlussfolgerung, dass es im Grunde notwendig ist, sein ganzes Leben der Praxis des Buddhismus zu widmen.
    Jetzt frage ich mich, inwiefern das so allgemein anerkannt ist oder ob es da verschiedene Meinungen zu gibt. Ist es also unmöglich, als "mit Erfolgsaussicht praktizierender" tibetischer Buddhist ein "normales" Leben in einer westlichen Gesellschaft zu führen oder ist ein Mittelweg möglich?


    Beste Grüße
    Joker77

  • Hallo Joker77, willkommen :)


    Zu der Frage wirst Du vermutlich viele verschiedene Meinungen hören. Es gibt sicherlich einige Übungen im tibetischen Buddhismus, für die man sich zeitweise oder auch für eine sehr lange Zeit zurückziehen müsste, um sie richtig umzusetzen. Auf der anderen Seite ist aber gerade das buddhistische Tantra eine Methode die für sog. Haushälter oder Laien sehr gut geeignet ist und wo man auch im Alltag schnell weiterkommen kann. Die Bestandteile einer solchen Praxis könnten sein, dass man regelmäßig kurz im Alltag praktiziert und dann vor allem die Sichtweise aus der Meditation so gut wie möglich mit in den Alltag nimmt. Dann könnte man in den Ferien oder wenn man aus anderen Gründen die Zeit hat, Kurse oder Retreats zur Vertiefung der Praxis machen. Einige Techniken wie Phowa versprechen, dass man nach dem Tod nicht von der einmal erreichen Ebene wieder herunterfallen kann. Die erwähnte Schwierigkeit, vllt. nicht wieder einen menschlichen Körper bekommen zu können, hat etwas mit dem Karma zu tun. Auch wenn es einem jetzt im Grossen und Ganzen gut geht, weiss man nicht, was für Karma noch irgendwo herumfliegt. Deswegen gibt es starke karmareinigende Meditationen wie Vajrasattva (Dorje Sempa / Diamantgeist). So oder so ist Praxis so gut es eben geht das Beste, was man aus buddhistischer Sicht machen kann. In den Alltag integrieren lassen sich v.a. Essenz-Mahamudra und Dzogchen, sie benötigen aber auch als Basis oder flankierend tantrische Methoden, die man so oft wie möglich formell auf dem Kissen übt.


    So viel zu einer, nämlich meiner, Sichtweise aus dem Bereich tibetischer Buddhismus. Bin gespannt was andere zu sagen haben; und dazu, wie das aus Sicht des Zen aussieht frag doch vielleicht nochmal gezielt hier im Zen-Bereich, wo die Zen-Spezialisten unterwegs sind...


    kilaya

  • Wie könnte man eine Alltagstauglichkeit des tibetischen Buddhismus beweisen?
    Für mich persönlich hat sich genau das bestätigt. Ich bin nun erst ein paar Jahre intensiver beim tibetischen Buddhismus. Und ja, mein Alltag hat sich ein wenig verändert. Oder besser meine Einstellung zu meinem Alltag hat sich verändert. Positiv! Ich bin nun gelassener und zufriedener. Die Problemchen des Alltags regen mich nicht mehr so sehr auf. Für mich persönlich ist es genau der tibetische Buddhismus. Wie das bei Dir Joker77 wäre, ob so eine positive Veränderung, also eine Alltagstauglickeit, bei Dir eher mit dem Zenbuddhimus, tibetischem Buddhismus, oder vielleicht sogar mit Marathonlaufen oder Fallschirmspringen zu erreichen wäre, dass kannst Du nur selbst durch ausprobieren herausfinden.


    Joker77:

    In der "Geheimlehre Tibets" heißt es als Schlussfolgerung, dass es im Grunde notwendig ist, sein ganzes Leben der Praxis des Buddhismus zu widmen.


    Das Buch habe ich nicht gelesen. Aber ich kenne ähnliche Aussagen. Für mich fallen solche Aussagen in die Kategorie:"Sendungsbewustsein/Werbung".


    Nyang Wen Tingzin Zangpo, der Autor, des Textes der in dem Buch komentiert wird, war "führender buddhistischer Meister seiner Zeit"( Seite 62), hat also sein ganzes Leben der Praxis gewidmet. Nun kommt er zur Schlußfolgerung, dass genau das was er selbst macht, das Beste für alle Menschen ist.


    Eigentlich hat sich der tibetische Buddhismus die Regel gesetzt, dass er nicht Missionieren will. Wenn man nun aber von dem was man tut sehr überzeugt ist und auch der ganzen Welt mitteilen will, das das was man macht natürlich das Beste ist, womöglich gar noch für alle Anderen, was kann man dann machen?
    Man kann betonen wie schnell doch gerade die eigene Spielart des Buddhismus zum Nirwana führt. Schneller als alle anderen. Ich verurteile solche Aussagen nicht, für mich sind sie einfach Säbelrasseln und nicht belegbar.



    Joker77:

    wenn man erst einmal auf dem buddhistischen Weg ist und auch regelmäßig praktiziert, als karmisches Resultat eine Wiedergeburt erfährt, die eine Weiterführung der Praxis ermöglicht.


    Von solch einem Automatismus habe ich noch nichts gehöhrt. Solch eine Aussage kann auch nicht überprüft werden. Versprechungen fürs nächste Leben, Dana, Verdienst etc interssieren mich persönlich nicht bezüglich einer Verbesserung für einer zukünftigen Wiedergeburt. Ich kann das nicht überprüfen, ob das im nächsten Leben oder so eintreten wird. Ich weiss ja noch nicht einmal genau ob es ein nächstes Leben geben wird. Ich weiss nur von meinem jetzigen Leben. Und da kann ich oft die positiven Auswirkungen von Spenden, die sinnvolle Projekte finanzieren, oder ehrenamtlicher Arbeit, die das funktionieren der Zentren und Events ermöglichen und finanzierbar halten, erkennen. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass die Praxis des tib. Buddhismus positive Verändernungen für mein Leben bringt. Egal wie bunt und exotisch das System tib Buddhismus daherkommt. Es funktioniert für mich. Es scheint geradezu trotz der bunten Exotik ein System zu sein, das einen in der Persönlichkeitsentwickung weiterbringt.


    Joker77:

    Ist es also unmöglich, als "mit Erfolgsaussicht praktizierender" tibetischer Buddhist ein "normales" Leben in einer westlichen Gesellschaft zu führen oder ist ein Mittelweg möglich?


    Man kann als tib Praktizienreder ein normales Leben in einer westlichen Gesellschaft führen. Ich tue das und auch mein Rinpoche der seit Jahrzehnten in London lebt, der einen weltlichen Job hatte , geheiratet hat und Kinder hat, der inzwischen geschieden ist und von seiner Rente lebt, der bei Besuchen des Dalai Lamas in England einen Ehrenplatz bekommt der also westlich lebt und gleichzeitig im tib Buddhismus anerkannt ist, er kann das sicher auch. Ein Mittelweg ist durchaus möglich.

  • nyalaana:

    Nein, mein Lama ist Karma Kagyu.


    Auch der 15. Karmapa, Khakyab Dorje heiratete seine Frau Dāki Wangmo, welche ihm 3 Söhne gebar. Der Karmapa ist bekanntlich das Haupt der Karma Kagyu Linie.


    Na und wer ist nun dieser Rinpoche?

  • mkha':

    n den anderen Schulen unterrichten Mönche und Nonnen, (daher ist die Kombination Rinpoche plus Heirat etc. nicht gegeben), aber auch weltliche Lehrer, die dann jedoch nicht mit dem Ehrentitel Rinpoche angeredet werden.


    Das kann man so pauschal nicht sagen. Mein Lehrer ist Gelugpa aber kein Mönch. Er ist Laie, hat geheiratet, ein paar Enkel und trägt den Titel Rinpoche. Ah, ich sehe gerade, dass nyalaana die Aussage bereits relativiert hat.

  • Besten Dank für die vielen Antworten, das hat meine Bedenken erst einmal gestillt. Ich werd es jetzt wohl so machen, dass ich erst mal ein paar Monate in ein Zen-Zentrum gehe, dann ein paar Monate in ein tibetisches Zentrum und vergleiche, was mich eher anspricht, ich denk mal, das bringt mehr, als nur die Theorie oder kurze Eindrücke zu vergleichen.