Die Alltäglichkeit des Mitgefühls

  • In der Nacht nach einem Kissen greifen...
    von Tenryu Paul Rosenblum


    Tenryu Paul Rosenblum Sensei begann mit der Zen-Praxis vor über dreißig Jahren mit Shunryu Suzuki Roshi im San Francisco Zen Center. Er ist Dharma-Nachfolger von Baker Roshi. Paul Rosenblum wurde von Baker Roshi zum Priester ordiniert, diente als leitender Mönch im Tassjara Zen Mountain Center und erhielt vor einigen Jahren die Lehrübertragung von Baker Roshi. Er lebt in San Anselmo/Kalifornien und lehrt regelmäßig im Johanneshof.



    Ich freue mich, dass ich die Möglichkeit habe, mit euch über einige Aspekte der Praxis zu sprechen. Dies ist mir auch eine willkommene Gelegenheit, auf eine Frage zu antworten, die Baker Roshi vorgebracht hat: „Wie können wir uns in einer Weltsicht verankern, in der wir Dinge als leer und unbeständig erkennen?” Ich erkunde seit einiger Zeit einen bestimmten Satz in einem Koan, der einen guten Zugang zu dieser Frage eröffnet. Yunyan fragt seinen älteren Bruder Daowu: „Was tut der Bodhisattva des Großen Mitgefühls mit so vielen Händen und Augen?” Und Daowu antwortet: „Es ist wie jemand, der in der Nacht nach einem Kissen greift.” Die Frage, die Roshi aufgebracht hat, ermutigte mich, weiter zu überlegen, warum mich dieser Satz, diese ungewöhnliche Antwort, derart einnimmt. Wie finde ich einen Zugang dazu? Warum zeigt sich dieser Satz wieder und wieder in mir? Warum kann ich ihn nicht loslassen?


    Die Alltäglichkeit des Mitgefühls
    Ich habe das Gefühl, dass ein Satz wie dieser zwei wichtige Aspekte hat, die es mir ermöglichen, mit ihm zu arbeiten, und es ihm ermöglichen, weiter in mir zu arbeiten. Der erste ist „Resonanz”, eine Art akustischer, sympathetischer Ton. Es gibt da ein Gewahrsein, dass diese Antwort in Einklang und Harmonie ist mit einem Gefühl, das ich habe. Nicht mit einer Vorstellung, nicht mit einer Art und Weise, wie ich erwarte, dass sich die Welt in meiner Erfahrung zeigt, sondern eher ein Einklang, der meinen Vorstellungen und Meinungen vorausgeht. Der zweite Aspekt ist das, was ich „Ausgriff” nenne, eine Bewegung hin zu etwas, auf das ich keinen rechten Zugriff habe. Beides muss da sein, damit ein Satz wirken kann: Etwas bringt eine Saite in mir zum Schwingen. Und gleichzeitig gibt es da auch eine Ahnung von etwas, das ich nicht recht zu fassen bekomme. In einen Satz hineinzufühlen, der sowohl Resonanz als auch „Ausgriff” in sich birgt, macht es möglich, dass eine neue Dimension von Reichtum auftauchen kann. Für mich ist es so, dass ein klares, unverstelltes Gefühl anfangen kann, sich zu entfalten. Solch ein Satz kann uns helfen zu verändern, wie wir unsere Erfahrungen strukturieren und wie wir sie zu etwas Gewusstem und Manifestem machen. Was den besonderen Ton dieses Satz angeht, so hat Daowus eigenartige Antwort auf die Frage seines Freundes eine ganz alltägliche, gewöhnliche Qualität. Vom Bodhisattva des großen Mitgefühls, Avalokitesvara, wird manchmal gesagt, er habe tausend Hände, zehntausend Hände, vierundachzigtausend Hände oder manchmal auch, er habe grenzenlos viele Hände. Jede dieser Hände hat ein Auge in der Handinnenfläche, ein Auge, von dem gesagt wird, es sehe genau, was jede Person braucht, und jede Hand enthält genau die dazu passende Gabe. Und dennoch sagt Daowu, dass dieses grenzenlose Potential zum Wohle aller Wesen zu handeln, etwas so Einfaches ist, wie wenn jemand in der Nacht nach seinem Kissen greift. Der Bodhisattva des großen Mitgefühls, dieses Wesen von grenzenloser Macht, drückt sich in einer scheinbar recht gewöhnlichen Handlung aus. Das erste Wort, das mich in diesen Satz hineinzieht, ist „jemand”. Daowu sagte nicht: „Es ist wie ein wundersames, allwissendes, mitfühlendes und allmächtiges Wesen, das nach einem Kissen greift.” Er sagt einfach nur „jemand”. Ich spüre, dass jeder von uns dieser jemand sein kann. Ich kann dieser jemand sein. Ich kann mich mitten in diesem Koan aufrichten. Hier kann ich mein Leben finden. Das kann ich sein, befasst mit der einfachen Handlung, mich um etwas zu kümmern, vielleicht in derselben Weise wie der Bodhisattva des großen Mitgefühls handeln würde. Die Vorstellung, dass wir mit einer ungewöhnlichen Handlung befasst sind, dass wir dabei sind, ein besonderes Ziel zu erreichen oder etwas besonders gut zu machen, brauchen wir nicht. Es handelt sich vielmehr um eine unfassbare Geste, eine Geste ohne das Gefühl, dass etwas geleistet wird, ohne das Bewusstsein, dass wir versuchen, unsere Situation bequemer zu machen, oder dass wir uns um etwas kümmern. Möglicherweise ziehen wir nachts die Decken höher und breiten sie mit einem Gefühl der Nähe und Vertrautheit, das gar nichts Besonderes an sich hat, über unseren Ehepartner oder unser Kind und verstehen die Dinge dabei von einem inneren Gespür her. Vielleicht rücken wir ein Kissen zurecht und platzieren es unter unserem Kopf. Es mag vorkommen, aber es ist doch sehr ungewöhnlich, wenn jemand dann morgens aufwacht und sagt: „Das habe ich wirklich toll gemacht, wie ich da letzte Nacht nach dem Kissen gegriffen habe.”


    Den weiten Geist erfahren
    Dieser Satz birgt auch ein Gefühl der Vertrautheit, der Nähe. Ein Kissen ist nachts bei uns in unserem verletzlichen Zustand des Schlafens; es ist nahe, eine Quelle des Wohlgefühls. Es fühlt sich fast an, als sei es mit uns verbunden. Manchmal fühlt es sich vielleicht sogar an, als griffe das Kissen nach uns. Da ist ein Nicht-genau-Wissen, was uns umgibt, und die Präsenz eines weicheren Blicks, weil wir nicht ganz wach sind. Wir greifen einfach nach etwas, das wir nicht recht sehen oder kennen können. Das alles findet in der Dunkelheit statt mit einem Gefühl, das dem Gefühl gleicht, das der Geist in der Zazen-Übung hat, wo alles möglich ist in einer reichen, schwangeren Fülle, die nicht durch Begriffe und mentale Funktionen begrenzt ist.


    „In der Nacht nach etwas greifen” bedeutet, sich in ein Gebiet hineinzubewegen, das weiter ist als unser gewöhnliches Denken. Es liegt jenseits des Denkens und kann von ihm nicht erfasst oder vollständig zum Ausdruck gebracht werden. Es ist verbundener mit uns, mehr ein Teil von uns als unsere gewöhnliche Identifikation mit Gedanken. Ich finde, dass dieser Satz uns ein Vokabular bereitstellt für die Erfahrung eines weiten Geistes jenseits des Inhalts unserer mentalen Aktivität. Es verweist auf diesen Geist und auf die Einübung dieses Geistes.


    Darin liegt eben auch ein „Ausgriff” für mich, ein Gefühl für etwas, das ich anstreben kann: das Wirken eines Bodhisattvas, eines Wesens, das „wach” ist für Verblendung. Der Bodhisattva Avalokitesvara „nimmt wahr”, dass alle fünf Skandhas, die Aggregate der Erfahrung, unbeständig und leer von eigenständigem Sein sind. Avalokitesvara bewegt sich in einem Reich, das Körper, Rede und mentale Aktivität in ihrem gewöhnlichen Sinn sowohl einschließt als auch überschreitet.


    Das Handeln des Bodhisattvas ist nicht darauf gerichtet, etwas Bestimmtes zu erreichen, eine bestimmte Handlung, sondern eher auf ein Wirken in einer Art und Weise, die Fürsorge und Verbundenheit zum Ausdruck bringt. Das spiegelt sich in der Art von Gefühl, die wir haben, wenn wir etwas mit zwei Händen anfassen. Wir behandeln die Welt nicht als Gegenstand, als etwas, das von uns getrennt ist. Wir schalten um von einer Betonung unserer selbst (d.h., was wir spüren, wenn wir eine Hand benutzen) auf einen Ausdruck von Verbundenheit (d.h. was wir spüren, wenn wir beide Hände benutzen).


    Im Gefühl von Verbundenheit und Fürsorge
    Diese einfache Körperübung, beide Hände zu benutzen, kann, wenn sie mit Aufmerksamkeit und Sorgfalt ausgeführt wird, die Art und Weise verändern, wie wir mit der Welt und uns selbst in Beziehung treten. Aber das Wichtigste ist, dass man nicht an der Vorstellung klebt, immer zwei Hände benutzen zu müssen. Es handelt sich nicht um irgendeine Erfolgsstrategie nach dem Motto: „Wenn ich zwei Hände benutze, praktiziere ich wirklich Zen …” Vielleicht ist eine unserer Hände verletzt, oder vielleicht haben wir nur eine Hand, so dass es also unmöglich sein kann, beide Hände zu benutzen. Das Wichtigste ist das „Gefühl”, beide Hände zu benutzen. Dann können wir, selbst wenn wir etwas mit einer Hand tun, es in dem Gefühl tun, es mit beiden Händen zu tun, in der Vorstellung, dass unsere Hände tatsächlich durch unsere Arme, unsere Brust und unser Herz verbunden sind. Es geht in der Praxis nicht darum, etwas gemäß einer Idee oder Formel auszuführen, sondern darum, das Bodhisattva-Gefühl warmherziger Verbundenheit und Fürsorge wieder und wieder zum Ausdruck zu bringen.


    Der Bodhisattva-Weg wird manchmal der „Weg des Nashorns” genannt. Ein Nashorn ist ein einzelgängerisches Tier, das immer zum Mond zeigt. Es hat nur ein Horn; es hat nur eine Möglichkeit, Kontakt herzustellen. Wenn es ihn verfehlt, gibt es kein zweites Horn, keine zweite Chance. Ein Räucherstäbchen darzubringen ist so. Ich gebe mir die größte Mühe, das Stäbchen in die Mitte des Räuchergefäßes zu stecken, so dass es aufrecht steht, nicht nach hinten oder vorne lehnt oder zur Seite. Ich habe die Tendenz, das Räucherstäbchen so zu stecken, das es sich dem Buddha zuneigt; wenn ich also ein Räucherstäbchen darbringe, steht es oft schief, nicht ganz aufrecht. Jedesmal, wenn ich Räucherwerk darbringe, gebe ich mir die größte Mühe, es gerade hineinzustecken. Doch manchmal sehe ich dann: „Oh, es lehnt in Richtung des Buddha.” Aber unsere Praxis ist nicht, das Räucherstäbchen solange zu korrigieren, bis es genau richtig sitzt. Was wir wirklich darbringen, ist unsere Aufrichtigkeit. Der Zen-Mönch Wansong beschrieb das Wirken des Bodhisattvas in folgender Weise:


    Es ist wie weidenbewachsene Ufer und blumenbewachsene Mauern,
    An einem warmen Tag in einer sanften Brise…
    Es ist im Einklang mit den Dingen und kommt mit der Zeit.
    Nicht gehalten, nicht gehindert,
    Es ist wie der Mond im Himmel, der ganz natürlich seine Kreise zieht.


    Ein Schlüssel für mich in diesem Vers ist die „sanfte Brise”. Es ist die einzigartige Brise unserer wohlwollenden Praxis, die durch diese blumenbewachsenen Mauern und weidenbewachsenen Ufer geht. Sie bringt jeder Knospe und jedem neuen Blatt Leben. Unsere Offenheit und unsere Warmherzigkeit berührt jede Blume und jeden Zweig ganz natürlich, ohne Anstrengung.


    Wir funktionieren in dieser Lebendigkeit entsprechend der Ansicht, dass Praxis möglich ist. Wir verankern unsere Praxis in einer Erfahrung von Unbeständigkeit und Leerheit. Wir verpflichten uns darauf, in dieser Art und Weise zu handeln. Es ist wichtig zu akzeptieren, dass es vielleicht nicht immer möglich ist, ganz nach dieser Ansicht zu leben und sie in jedem Moment vollständig sichtbar werden zu lassen. Die Praxis kann dennoch weitergehen. Wir können mit jedem Einatem erneut beginnen, mit jedem neuen Atemzug. Wie können erneut beginnen, indem wir uns wieder mit unserer Absicht verbinden und sie zeigen. Wir können erneut beginnen, indem wir uns selbst verpflichten, unsere Praxis und Lebendigkeit mit warmherziger Aufrichtigkeit zum Ausdruck zu bringen.


    Aus dem Englischen von Christian Dillo




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