Für peeter
Der Mensch ist einerseits die Summe seiner Bausteine (im Buddhismus sind dies die 5 Skandhas). Andererseits ist er auch weit mehr als nur die Summe dieser Bausteine, so wie eine Klaviersonate von Mozart auch weit mehr ist, als die bloße Summe vieler Noten. Aus der Gesamtheit der Bausteine entsteht etwas Neues, etwas Einmaliges, etwas Individuelles.
Unter anderem entsteht das auch Gefühl des ICHs. Der Mensch erlebt sich als Subjekt von Wahrnehmungen, erlebt sich als Zentrum "seiner" Wahrnehmung und als willensbegabte Steuerzentrale "seiner" Handlungen. Allem Anschein nach handelt es sich bei diesem ICH lediglich um ein Konstrukt. Moderne Wissenschaft und Buddhismus treffen sich an diesem Punkt. Das ICH im Menschen ist weder lokalisierbar noch dauerhaft. Zu keinem Zeitpunkt und an keinem Ort ist ein ICH dingfest zu machen.
Spricht man nun davon, dass das ICH lediglich ein Konstrukt sei, so ist damit nicht gesagt, dass das ICH nicht real ist. Das ICH ist als Konstrukt real, genauso wie die Klaviersonate von Mozart real ist, obwohl sie in keinem Moment in irgendeiner Note dingfest zu machen ist oder einen musikalischen "Wesenkern", eine "Seele" besäße. Sie ist das Neue, das sich aus der Zusammensetzung (= Komposition) ergibt, das Neue, das die bloße Summe überschreitet, ebenso wie der Mensch mehr ist als die Summe seiner Teile.
Das anatta-Konzept (Nicht-Selbst) im Buddhismus wird vielfach missverstanden, dahingehend, dass das ICH nicht real, nicht vorhanden sei. Dabei ist das ICH als Konstrukt nicht nur durch und durch real, sondern auch für unser Überleben als Individuum in der Welt schlicht unverzichtbar. Der Buddhismus, der in Abgrenzung zur Seelenlehre (atta) des Hinduismus entstanden ist, stellt nicht die Realität des ICHs in Frage, sondern lediglich unser Bild vom ICH. Unser Bild vom ICH ist falsch, wenn wir dieses als dauerhaft und autonom (Dualismus Ich/Welt) betrachten. (Noch falscher ist es, wenn wir davonausgehen, dass da eine "Seele" unseren körperlichen Tod überlebt.) Wenn also die Rede ist vom Nicht-Ich, so heisst dies nicht, dass das ICH nicht sei, sondern dass dieses Konstrukt dem permanenten Wandel unterworfen ist und stets eingebunden ist in ein komplexes Netz der Bedingungen. Als flüchtiges und nicht-autonomes ICH ist es jedoch durchaus real. Dem hohen Stellenwert, den das "Mitgefühl" im Buddhismus besitzt, ja seiner kompletten Ethik, wäre ohne das Vorhandensein von im Weltlichen interagierenden "ICHs" jede Grundlage entzogen.
Erleuchtung bedeutet nun, die wahre Natur des ICHs (und damit die wahre Natur der Welt) auf einer transrationalen Ebene zu erfahren. Ist diese Erfahrung erfolgreich ins Leben integriert, sollte sie zu einer tiefen Wertschätzung individueller Existenz, zu Mitgefühl und zu einer Wertschätzung weltlicher Fülle und weltlicher Vielfalt führen. Das Ziel des buddhistischen Weges ist das Erlöschen des Leidens und nicht die Negation des Lebens. Erlöschen des Leidens bedeutet in seinem tiefsten Sinne, die Illusion eines von der Welt getrennten und dauerhaften Ichs überwunden zu haben.
Onda